20. Mai 2015 – Kulturwunder: Debussy, Dutilleux, Ravel und Fauré bei Spectrum Concerts

In Frankreich ist die Welt besser, nicht nur das Essen, sondern auch die Musik: Das muss man auch und gerade als Deutscher nach diesem Konzert zugeben. Man stelle sich ein vergleichbares deutsches Programm vor, statt Fauré, Debussy, Ravel, Dutilleux etwa Brahms, Pfitzner, Reger und Stockhausen – danach läge jeder Hörer erschlagen im Sessel!

Französischer Kammermusik aus 130 Jahren widmet sich das Konzert der stets aufregenden Spectrum-Reihe, und zwar keinen Evergreens, sondern durchaus sperrigen Werken. Claude Debussys En blanc et noir für 2 Klaviere ist zu Beginn des Ersten Weltkriegs entstanden, Luthers Ein feste Burg ist unser Gott tritt darin auf, verhärtet und panzert sich, wird zum Marsch und trifft auf eine leichte, lebensbejahende Marseillaise – so zumindest die Theorie. Der Konzertgänger erwartet bei einem solchen Konzept das Schlimmste, einen beklemmenden nationalen Furor, aber Debussy war offenbar selbst bei schlechtester Absicht unfähig zum musikalischen Hass. Seine kompositorische Fantasie entzündet sich am musikalischen Gegenstand, statt das feindliche Objekt zu verzerren. Blanc et noir sind bei Debussy Klaviertasten, nicht Kriegsgegner. Das Stück ist auf eine merkwürdig helle Weise unheimlich. Im zentralen zweiten Satz tritt der Lutherchoral von sehr fern und hoch heran, der Konzertgänger assoziiert kurz den Nebel am Beginn von La Valse; das Anschwellen, das Marschieren erinnert dann eher an jazzige Improvisationen als an Krieg. Stellenweise erschreckende Musik, aber niemals martialisch. Das Finale ist bezeichnenderweise ein trotz Dissonanzen helles Scherzando mit ganz abruptem Schluss.

Die Pianisten Robert Levin und Ya-Fei Chuang (im hochgeschlitzten Glitzerkleid, das dem Umblattler die Sinne verwirren muss, und High Heels, mit denen frau in Cannes in jedes Kino käme) spielen, wie man es sich von einem klavierspielenden Ehepaar erhofft, in perfekter Symbiose. Ausdrücklich um dieses Zusammenklingen geht es in Henri Dutilleux‘ Figures de Resonances von 1970, um Töne, die ihrem eigenen Nach- und Widerhall hinterherlauschen. Im Grunde genau das, was aufgeweckte Kinder, wenn die Hummeln im Hintern mal schlafen, am Klavierkörper tun könnten; noch schöner, wenn sie zwischendurch solche wilden Verzierungen in den Raum werfen können wie Chuang und Levin. Keine 10 Minuten dauern Dutilleux‘ schöne Resonanzen, ein nicht unwesentlicher Unterschied zu Stockhausens 140minütigen Natürlichen Dauern

Solche Musik ergibt von CD natürlich keinen Sinn, sondern nur im echten Raum, mit einem sehr leisen Publikum, das so diszipliniert wie dieses ist: Sogar bei Ravels Klaviertrio a-Moll klingelt ein Handy rücksichtsvoll nur zwischen den Sätzen. Wie Debussys Stück im Weltkrieg entstanden, ist hier nun nicht die geringste Spur von Gewalt zu hören. Mit seinen Schwerpunktverschiebungen im Kopfsatz und Taktwechseln im Finale entsteht ein tänzerischer, oft geradezu schwebender Klang. Begeisternd der schnelle zweite Satz Pantoum, die wie eine Art malaiischer Zigeunermusik klänge, wenn es so etwas denn gäbe. Im dritten Satz, einer langsamen Passacaille, wird die Musik zum Trip, am Schluss erklingt eine Zwiesprache von Geige und Cello, die zu schön für diese Welt ist, ehe das Klavier in tiefem Brummen versinkt. Aus hohen Tönen steigt der Finaltanz herab, das Trio mündet in einen Nebel, in dem Glück und Licht funkeln, das Bewusstsein einer besseren Welt mitten in der Katastrophe des Krieges. Das Trio spielt beeindruckend homogen, die Geigerin Marianne Thorsen sehr unprätentiös, Jens Peter Maintz mit beeindruckend langem Cello-Stachel und Ya-Fei Chuang mit sanftem, geschmeidigen Anschlag.

Klingt der Klavierpart bei Ravel weiblich, übernimmt Levin den sehr männlichen Klavierpart in Gabriel Faurés 2. Klavierquartett g-moll, das man automatisch mit Brahms‘ Klavierquartett in der gleichen Tonart vergleicht, das Schönberg schwülstig orchestriert hat. Während der Konzertgänger sich bei Brahms immer unzulänglich und unbehaglich fühlt, sich fragt, beim wievielten Gegenthema oder bei welcher Abspaltung man gerade ist, ob in der Schlussgruppe oder Durchführung, treibt er bei Fauré sofort im melodischen Strom mit, ohne sich aber gehirntot zu fühlen. Die Reprise erkennt er trotzdem, so wuchtig wird sie dem Hörer in die Ohren gedonnert. Der zweite Satz ist ein sehr kurzes, wüstes Gebilde voller in den Boden schießender Raketen und Tonleitergewitter, im Adagio pendelt und tonleitert das Klavier, während die Bratsche (Philip Dukes) das Thema aus dem Kopfsatz fortspinnt. Im Finale wird dieses Thema allmählich etwas dudelig, es ist nicht so auratisch wie Berlioz‘ idée fixe und der 3/4-Takt recht schunkelig, wenn man ihn mit den 3/3/2-Figuren oder 5/4- und 7/4-Takten bei Ravel vergleicht. Trotz eines gewissen Donnerns und Schrubbens zum Schluss sympathische Musik; man ist aber froh, dass Schönberg das nicht auch orchestriert hat.

Dass in Berlins überreicher Musiklandschaft auch solche anspruchsvollen, kaum oder gar nicht geförderten Gebilde wie Barnaby Weilers Klavierfestival und seit beeindruckenden 28 Jahren Frank S. Dodge’s Spectrum Concerts existieren, ist ein Kulturwunder. Als wäre das eigene Überleben nicht schwer genug zu sichern, engagieren sich Spectrum Concerts seit Jahren auch noch für das Musikleben im Kosovo – chapeau, sagt der Konzertgänger nach diesem französischen Abend. Es wäre übertrieben, den Kammermusiksaal als überfüllt zu bezeichnen; umso erfreulicher, dass eine Kanzlei namens Fuhrmann-Wallenfels ihre Gäste in dieses Konzert führt statt zu einer philharmonischen Schinken- und Schlachteplatte, wie risikoscheue Firmen sie sonst lieben. Hoffentlich wissen die Gäste diese Delikatessen zu schätzen!

Super, sagt jedenfalls ein Herr im Business-Anzug nach dem Konzert zu seinen Kollegen, auf bald!

Das nächste Spectrum-Konzert mit Bartók, Schulhoff, Korngold und Enescu (wo gibt es das sonst?) findet am 12. Juni statt, das Programm der nächsten Saison steht.

Spectrum Concerts

Juristen, die etwas von Musik verstehen!

11. und 12. Mai 2015 – (Un)dämonisch: Marc-André Hamelin und Louis Lortie beim Klavierfestival

Warum gibt es in Kanada eigentlich so viele gute Pianisten? Aus dem Land von Glenn Gould und Diana Krall kommen Janina Fialkowska, die Bach-Spezialistin Angela Hewitt, der polnischstämmige Jan Lisiecki, Louis Lortie und Marc-André Hamelin… Fialkowska und Hewitt waren in den letzten Jahren zu Gast beim Berliner Klavierfestival, das in diesem Jahr von Lortie und Hamelin beschlossen wird. Vielleicht könnte die kanadische Botschaft als Festivalsponsor gewonnen werden.

Hamelin

Marc-André Hamelin wird immer wieder als der technisch beste Pianist der Welt bezeichnet, so steht es sogar bei Wikipedia. Vielleicht ist es wie mit dem Eisengehalt des Spinats, einer hat es mal behauptet, und seitdem schreiben es alle ab; aber den Eisengehalt kann man immerhin messen, mit dem Virtuosentum ist es schwierig. Jedenfalls scheint Hamelin die schwierigsten Stücke ohne jede Mühe zu spielen, und er hat abartig fingerbrecherische Stücke auf Lager. Vielleicht ist sein abseitiges Repertoire, das beim musikliebenden Hörer nicht immer Entdeckerfreude auslöst, auch der Grund, dass er trotz dieses Rufs wie Donnerhall zumindest hierzulande keine großen Hallen füllt.

Aber im Kleinen Saal des Konzerthauses klingt Klaviermusik ohnehin besser als in der riesigen Philharmonie. Der Weg zum Gendarmenmarkt ist schwierig, weil der israelische Präsident in der Stadt ist, aber der Konzertgänger und seine Frau kommen auf ihren Fahrrädern am Schloss Bellevue vorbei, weil sie nicht wie „linksautonome Demonstranten“ (so wörtlich ein freundlicher Polizist) aussehen. Die Kritiker-Hühnerstange an der rechten Wand des Kleinen Saals ist heute verwaist, vermutlich nicht wegen des Staatsbesuchs, sondern weil die Kritiker ihren Abend in Dahlem verplempern müssen, wo das angeblich beste Orchester der Welt vergeblich versucht, den besten Dirigenten der Welt zu wählen. Oder sie haben keine Lust aufs Hamelin-Repertoire.

Dabei beginnt er mit Haydn: die B-Dur-Sonate Hob XVI:41 besteht aus zwei schnellen Sätzen, die für Haydn relativ schwer klingen, aber für Hamelin natürlich kein Problem sind. Quasi als langsamer Satz folgt das Andante inédit Es-Dur des Iren John Field, ein simples, kitschiges, schönes Stück, für das deutsche Pianisten sich wohl zu fein sind! Hörend lernt man, dass Chopins Nocturnes nicht aus dem Nichts kamen, auch wenn sie raffinierter sind.

Dann aber das Virtuosenfutter: Gut zu wissen, dass das Leben nicht sinnlos wird, wenn einem die Chopin-Etüden zu leicht sind – man klimpert sie dann einfach mit der linken Hand, wie Leopold Godowsky sie eingerichtet hat. Fünf dieser bizarren Zirkusnummern spielt Hamelin, natürlich mühelos. Mit der Rechten könnte er rauchen, aber sowas tut er nicht, seine einzige Extravaganz besteht darin, sich ab und an die Brille geradezurücken. Godowskys folgende Symphonische Metamorphosen über Wein, Weib und Gesang nach Johann Strauß sind stimmungsvolle, auch schunkelige Tastenlöwengewitter.

Man ist beeindruckt; aber trotzdem froh, danach mit Debussys Images Livre I richtige Musik zu hören. Der Konzertgänger hadert weiterhin mit dem Yamaha-Flügel des Klavierfestivals, der die Reflets dans l’eau betrüblich stumpf klingen lässt. Was die Hommage à Rameau mit Rameau zu tun haben soll, erschließt sich trotz des Sarabanden-Grundschlags nicht recht, aber es ist ebenso herrliche Musik wie die luftige Mouvement-Etüde. Liszts Venezia e Napoli ist, typisch Liszt, eine Mischung aus berückender Stimmungsmalerei und grotesk billiger EffekthaschereiFeatured image; aber unter Hamelins sachlichen Virtuosenhänden klingt das alles plausibel.

Vier Zugaben, darunter ein oft gehörtes Chopin-Stück, das sich als frühe Etüde von Skrjabin entpuppt; I would like to write like that, kommentiert Hamelin. Sein letztes Wort: Haydn, dann geht er.

Lortie

Wenn Hamelin ein undämonischer Virtuose ist, so ist Louis Lortie ein dämonischer Pianist, der aber kein Virtuosenrepertoire spielt. Im diabolisch hochgeschlossenen Frack betritt er das Podium, und so spielt er auch: den Kopf in den Nacken werfend, die Arme hochreißend, mit dem Fuß stampfend, alle Seelenleiden und Himmelsfreuden durchmessend, die in Chopins Préludes verewigt sind. Aber auch wenn man Lortie mit geschlossenen Augen zuhören würde, klänge das großartig. Das liegt nicht nur, aber auch daran, dass er auf einem Steinway spielt: Sonst des ewigen Steinway-Sounds manchmal überdrüssig, ist der Konzertgänger nach mehreren Yamaha-Abenden dankbar für diesen Reichtum an Klangfarben, Wucht, perlendem Diskant, Charakter. Der direkte Vergleich mit dem Steinway fällt für die Flügelbaukunst der Firma Yamaha unerfreulich aus.

Lortie, offenbar ein Chopinspezialist alter Schule, spielt die Préludes mitreißend extrem. Den düsteren Mittelteil des Des-Dur-Préludes (dem irgendjemand den idiotischen Beinamen Regentropfen verpasst hat) spielt er so laut es nur geht, knallt und dröhnt, als müsste er die Carnegie Hall füllen, aber es klingt richtig, ein erschreckendes, furchteinflößendes Seelenfeuer.

Skrjabins Préludes können dem Vergleich mit ihrem großen Vorbild nicht standhalten, aber es ist schöne Musik mit einigen Highlights, etwa dem Glockendröhnen und abrupt trockenen Schluss im cis-moll-Prélude oder dem Sturm im 15/8-Takt im es-moll-Prélude, das durch die schiere Phonmasse überwältigt und schon an Skrjabins spätere Klangorgien erinnert; danach folgt ein ganz einfaches Des-Dur-Lento mit einem hauchzarten Schluss. Aber die Stimmungssphären wiederholen sich mit der Zeit, die Stürme und das friedlich Fließende; ein Pärchen auf der linken Galerie beginnt zu kuscheln. So unekstatisch ginge das bei Skrjabins späteren Stücken nicht!

Als Zugabe Grand Valse brillante op. 34/2 von Chopin und das g-moll-Prélude von Fauré. Lortie würde man gern öfter in Berlin hören.

In die Freude auf das nächste Klavierfestival mischt sich die Hoffnung, dass 2016 auf Steinways gespielt werden möge, gerne auch auf mächtigen Bösendorfers, singenden Blüthners, farbigen Bechsteins, ächzenden Hammerklavieren, worauf auch immer; aber nicht mehr auf Yamahas.

Zum Klavierfestival

Marc-André Hamelin

Louis Lortie