Warum gibt es in Kanada eigentlich so viele gute Pianisten? Aus dem Land von Glenn Gould und Diana Krall kommen Janina Fialkowska, die Bach-Spezialistin Angela Hewitt, der polnischstämmige Jan Lisiecki, Louis Lortie und Marc-André Hamelin… Fialkowska und Hewitt waren in den letzten Jahren zu Gast beim Berliner Klavierfestival, das in diesem Jahr von Lortie und Hamelin beschlossen wird. Vielleicht könnte die kanadische Botschaft als Festivalsponsor gewonnen werden.
Hamelin
Marc-André Hamelin wird immer wieder als der technisch beste Pianist der Welt bezeichnet, so steht es sogar bei Wikipedia. Vielleicht ist es wie mit dem Eisengehalt des Spinats, einer hat es mal behauptet, und seitdem schreiben es alle ab; aber den Eisengehalt kann man immerhin messen, mit dem Virtuosentum ist es schwierig. Jedenfalls scheint Hamelin die schwierigsten Stücke ohne jede Mühe zu spielen, und er hat abartig fingerbrecherische Stücke auf Lager. Vielleicht ist sein abseitiges Repertoire, das beim musikliebenden Hörer nicht immer Entdeckerfreude auslöst, auch der Grund, dass er trotz dieses Rufs wie Donnerhall zumindest hierzulande keine großen Hallen füllt.
Aber im Kleinen Saal des Konzerthauses klingt Klaviermusik ohnehin besser als in der riesigen Philharmonie. Der Weg zum Gendarmenmarkt ist schwierig, weil der israelische Präsident in der Stadt ist, aber der Konzertgänger und seine Frau kommen auf ihren Fahrrädern am Schloss Bellevue vorbei, weil sie nicht wie „linksautonome Demonstranten“ (so wörtlich ein freundlicher Polizist) aussehen. Die Kritiker-Hühnerstange an der rechten Wand des Kleinen Saals ist heute verwaist, vermutlich nicht wegen des Staatsbesuchs, sondern weil die Kritiker ihren Abend in Dahlem verplempern müssen, wo das angeblich beste Orchester der Welt vergeblich versucht, den besten Dirigenten der Welt zu wählen. Oder sie haben keine Lust aufs Hamelin-Repertoire.
Dabei beginnt er mit Haydn: die B-Dur-Sonate Hob XVI:41 besteht aus zwei schnellen Sätzen, die für Haydn relativ schwer klingen, aber für Hamelin natürlich kein Problem sind. Quasi als langsamer Satz folgt das Andante inédit Es-Dur des Iren John Field, ein simples, kitschiges, schönes Stück, für das deutsche Pianisten sich wohl zu fein sind! Hörend lernt man, dass Chopins Nocturnes nicht aus dem Nichts kamen, auch wenn sie raffinierter sind.
Dann aber das Virtuosenfutter: Gut zu wissen, dass das Leben nicht sinnlos wird, wenn einem die Chopin-Etüden zu leicht sind – man klimpert sie dann einfach mit der linken Hand, wie Leopold Godowsky sie eingerichtet hat. Fünf dieser bizarren Zirkusnummern spielt Hamelin, natürlich mühelos. Mit der Rechten könnte er rauchen, aber sowas tut er nicht, seine einzige Extravaganz besteht darin, sich ab und an die Brille geradezurücken. Godowskys folgende Symphonische Metamorphosen über Wein, Weib und Gesang nach Johann Strauß sind stimmungsvolle, auch schunkelige Tastenlöwengewitter.
Man ist beeindruckt; aber trotzdem froh, danach mit Debussys Images Livre I richtige Musik zu hören. Der Konzertgänger hadert weiterhin mit dem Yamaha-Flügel des Klavierfestivals, der die Reflets dans l’eau betrüblich stumpf klingen lässt. Was die Hommage à Rameau mit Rameau zu tun haben soll, erschließt sich trotz des Sarabanden-Grundschlags nicht recht, aber es ist ebenso herrliche Musik wie die luftige Mouvement-Etüde. Liszts Venezia e Napoli ist, typisch Liszt, eine Mischung aus berückender Stimmungsmalerei und grotesk billiger Effekthascherei; aber unter Hamelins sachlichen Virtuosenhänden klingt das alles plausibel.
Vier Zugaben, darunter ein oft gehörtes Chopin-Stück, das sich als frühe Etüde von Skrjabin entpuppt; I would like to write like that, kommentiert Hamelin. Sein letztes Wort: Haydn, dann geht er.
Lortie
Wenn Hamelin ein undämonischer Virtuose ist, so ist Louis Lortie ein dämonischer Pianist, der aber kein Virtuosenrepertoire spielt. Im diabolisch hochgeschlossenen Frack betritt er das Podium, und so spielt er auch: den Kopf in den Nacken werfend, die Arme hochreißend, mit dem Fuß stampfend, alle Seelenleiden und Himmelsfreuden durchmessend, die in Chopins Préludes verewigt sind. Aber auch wenn man Lortie mit geschlossenen Augen zuhören würde, klänge das großartig. Das liegt nicht nur, aber auch daran, dass er auf einem Steinway spielt: Sonst des ewigen Steinway-Sounds manchmal überdrüssig, ist der Konzertgänger nach mehreren Yamaha-Abenden dankbar für diesen Reichtum an Klangfarben, Wucht, perlendem Diskant, Charakter. Der direkte Vergleich mit dem Steinway fällt für die Flügelbaukunst der Firma Yamaha unerfreulich aus.
Lortie, offenbar ein Chopinspezialist alter Schule, spielt die Préludes mitreißend extrem. Den düsteren Mittelteil des Des-Dur-Préludes (dem irgendjemand den idiotischen Beinamen Regentropfen verpasst hat) spielt er so laut es nur geht, knallt und dröhnt, als müsste er die Carnegie Hall füllen, aber es klingt richtig, ein erschreckendes, furchteinflößendes Seelenfeuer.
Skrjabins Préludes können dem Vergleich mit ihrem großen Vorbild nicht standhalten, aber es ist schöne Musik mit einigen Highlights, etwa dem Glockendröhnen und abrupt trockenen Schluss im cis-moll-Prélude oder dem Sturm im 15/8-Takt im es-moll-Prélude, das durch die schiere Phonmasse überwältigt und schon an Skrjabins spätere Klangorgien erinnert; danach folgt ein ganz einfaches Des-Dur-Lento mit einem hauchzarten Schluss. Aber die Stimmungssphären wiederholen sich mit der Zeit, die Stürme und das friedlich Fließende; ein Pärchen auf der linken Galerie beginnt zu kuscheln. So unekstatisch ginge das bei Skrjabins späteren Stücken nicht!
Als Zugabe Grand Valse brillante op. 34/2 von Chopin und das g-moll-Prélude von Fauré. Lortie würde man gern öfter in Berlin hören.
In die Freude auf das nächste Klavierfestival mischt sich die Hoffnung, dass 2016 auf Steinways gespielt werden möge, gerne auch auf mächtigen Bösendorfers, singenden Blüthners, farbigen Bechsteins, ächzenden Hammerklavieren, worauf auch immer; aber nicht mehr auf Yamahas.