Worüber ich nicht geschrieben habe
Die Abonnenten merken es, im Moment schreibe ich nicht so häufig in diesem Blog wie gewohnt. Aus persönlichen und aus Energieeffizienz-Gründen. Dabei wäre einiges Gehörte und Erlebte der Nachrede wert gewesen! Ein Klavier- und ein Xenakis-Festival etwa, verschiedene Sinfoniekonzerte, oder auch ein Klavierabend von Grigory Sokolov.
Da hätte ich dann darüber geschrieben, wie beim immer besuchenswerten Berliner Klavierfestival, das endlich wieder „in echt“ im Kleinen Saal des Konzerthauses stattfand, die phantastische Zlata Chochieva beim Spielen nach oben blickte: nicht in abgedroschener Pianistinnen-Hochguck-Manier, sondern tatsächlich, als staunte sie fasziniert den seltsamen Farben nach, die sie da dem Flügel entsteigen ließ. Sie spielte die Hälfte der Sonaten von Alexander Skrjabin, die es komplett an zwei Abenden gab (den Hörer durchaus an Grenzen bringend, aber ekstatischer Art). Die andere Hälfte spielte, ebenso beeindruckend, Severin von Eckardstein. Und als Marc-André Hamelin Beethovens Hammerklaviersonate aufführte, stellte sich keinesfalls die leise befürchtete Langeweile ein: weil dieser angeblich technisch beste Pianist der Welt die existenzielle Herausforderung einfach zu schlafwandlerisch bewältigen würde. Stattdessen war es eine Lust, einmal trotz Affenzahn derart sicher durch dieses Werk geführt zu werden, ohne geringstes Abgleiten ins momentweises Rauschen oder Dröhnen. (Vielleicht etwas abwegiger Vergleich, aber im Konzert so in den Sinn gekommen: das seltene Glück, bei Andreas Schagers Tristan im dritten Aufzug jede, wirklich jede Silbe zu hören, was sonst kaum je vorkommt.)
Und so, wie Chochieva Skrjabins Farben nachzuschauen schien, war man als Hörer den Obertönen nachzuschauen versucht, die Matthias Bauer in der irren Solo-Nummer Theraps seinem Kontrabass entlockte. Das geschah beim mittleren Konzert des dreitägigen Xenakis-Festivals, das das ensemble unitedberlin in der St. Elisabeth-Kirche veranstaltete, zum 100. Geburtstag des Meisters vulgo κύριος. Dieses mittlere war das stärkste Konzert, nicht nur wegen der virtuosen solistischen und duistischen Leistungen der Geigerin Emmanuelle Bernard, der Cellistin Lea Rahel Bader oder des Klarinettisten Matthias Badczong an den Rändern des Konzerts, sondern auch wegen der größer besetzten Ensemble-Werke Phlegra und Waarg von 1975 und 1988, die Vladimir Jurowski im Zentrum des Abends dirigierte. Und während der dritte Abend mit der von Roland Hayrabedian dirigierten Oresteia die Kräfte der Beteiligten doch an Grenzen führte (wohl weniger das Potenzial der Musiker als schlicht die Vorbereitungsmöglichkeiten bei einem solchen Marathon), wobei auch die Verlegenheits-Szenen-Elemente von Anisha Bondy der Sache nicht dienten, obwohl die nackte Ziegel-Apsis der kriegsversehrten Kirche manche atmosphärische Möglichkeit geboten hätte, kurzum: es zu blass und harmlos blieb für eine Oresteia — so hatte der erste Abend mit Xenakis‘ fast anderthalbstündigem Kraanerg von 1969 den Reiz der absoluten Rarität. Freilich, ist nicht doch, was die Gegenüberstellung von 23 Instrumentalisten hier, vierspurigem Tonband dort angeht, ein wenig das musikkgeschichtliche Rad des Ixion über Kraanerg gerollt? Unverbunden gegenüber, einander anschweigend bleiben die musikalischen Sphären im Raum. Aufschlussreich aber waren die Worte des Dirigenten Arturo Tamayo, der vor vierzig Jahren mit Xenakis zusammenarbeitete: Er sprach vom nicht endenden Schrei, der in der so mathematisch konstruierten Musik stecke – dem Schrei des Künstlers, dem als jungem Mann das Gesicht zerschossen wurde und der durch Flucht seinem schon ausgesprochenen Todesurteil entkam. Und genau diese Mischung von spürbarer Komplexität und geradezu archaischer Wucht macht ja die Xenakis-Einzigartigkeit aus. Wirklich ein Jahrhundert-Komponist.
Auch über einige klassische Sinfoniekonzerte hätte ich schreiben können: Wie Vladimir Jurowski beim Rundfunk-Sinfonieorchester Ende April eine eminente Schostakowitsch-Achte dirigierte. Wie Hannu Lintu beim Deutschen Symphonieorchester das zu seltene Glück gönnte, Lutosławskis phänomenale Dritte zu hören, und der usbekische Pianist Behzod Abduraimov anschließend nach Rachmaninow Zwo mit Liszts Paganini-Campanella eine geradezu außerirdische Zugabe hinlegte. Oder wie bei den Berliner Philharmonikern John Storgårds eine solide, wenngleich nicht solitäre Bruckner-Sechste gab (eher rhythmisch präzise gespannt als atmend, schwellend, sterbend und schreiend), und zuvor ein erstaunlich langweiliges Kontrabasskonzert des irischen Komponisten Gerald Barry, immerhin vorzüglich gespielt von Matthew McDonald.
Denn auch die gibt es ja: Anflüge von Ödnis. Und so beglückend es ist, nach über zwei Jahren Absagen endlich wieder Grigory Sokolov zu hören, umschwebte mich doch die Versuchung der Frage, ob Sokolovs legendäre Langsamspiel- und Zauberanschlagskunst bei Beethovens Eroica-Variationen gut aufgehoben ist. Ein Zweifel, der auch bei den Kontrasterfordernissen von Schumanns Kreisleriana aufkommen könnte; allerdings ganz gewiss nicht bei Brahms‘ Intermezzi Opus 117, dem Höhepunkt des Abends.
Über all das hätte ich also schreiben können. In nächster Zeit werde ich hier wohl eher unregelmäßig schreiben, da der Aufwand dieser Nachbereitungen, auch wenn es sich um schnell Hingeschriebenes handelt, hoch ist und die Reichweite und Resonanz beim Nischenprodukt „Konzertkritik“ nun einmal überschaubar. Nach wie vor gilt: Möchten Sie dieses Blog unterstützen, können Sie mir unkompliziert über Paypal einen Betrag ganz nach gusto spenden. Oder kaufen Sie eins meiner Bücher, etwa den Roman über Beethov(e)n (laut FAZ ja „eins der schönsten Beethoven-Bücher, die es gibt“). Oder den gerade erschienenen neuen Roman, ungelogen Zierde jedes Buchschranks, nämlich mit türkisem Buchschnitt und proppenvoll mit Abenteuern der Seele und aller Welten, die auch Ihren Kindern und/oder Enkelinnen gefallen könnten, falls die schon im zweistelligen Alter sind. Bleiben Sie gesund und so munter wie möglich und nötig.