Trismegistisch

Collegium 1704, Les Arts Florissants und Jean Rondeau beim Barock-Festival in der Philharmonie

Drei sehr verschiedene Konzerte am zweiten (und letzten) Wochenende des Barock-Festivals, jedes auf seine Weise beeindruckend: trimagisch, ja geradezu trismegistisch. Den Anfang macht am Freitagabend das tschechische Collegium 1704 im Kammermusiksaal. Auf dem Programm steht unter anderem ein Bachkonzert (BWV 1060, c-Moll) mit den Solo-Instrumenten Oboe und Violine, während gleichzeitig die Berliner Philharmoniker im Großen Saal ebenfalls ein Bachkonzert mit Oboe spielen (BWV 1055R). Kuriose Selbstkannibalisierung. Das Barock-Festival ist ja eine Veranstaltung der Stiftung Berliner Philharmoniker, die Reihe „Originalklang“ in gebündelter Form, und das Collegium 1704 geladener Gast der Hausherr/*/frauschaft. Ohne dem Orchester, Dirigent Roth und vor allem Albrecht Mayer nahezutreten, den aufregenderen, quickigeren Bach gibt’s ziemlich gewiss bei den tschechischen Spezialisten.

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Herabsphärend

Benedikt Kristjánsson und Margret Köll im Pierre-Boulez-Saal

Gegen die Barockharfe, die in diesem Konzert gleich in mehreren Formen zu erleben ist, wirkt das moderne Konzertgoldflügelgetüm wie ein monströser SUV im Vergleich zu einem wendig-schnittigen Fahrrad. Über mehr als 4000 Jahre leitet Michael Horst in seiner Einleitung die Bedeutung des Instruments und der dazugehörigen Stimme her, bis zu den Pyramiden und natürlich zum Orpheus-Mythos. Vor einigen Wochen hat die Komische Oper einen lohnenden neuen Orfeo vorgestellt: den geradezu simplen von Gluck. Die Lieder von Emilio de‘ Cavalieri und Giulio Caccini, mit denen der Tenor Benedikt Kristjánsson und die Barockharfenistin Margret Köll ihr Programm im Boulezsaal beginnen, erinnern allerdings eher an eine andere, frühere Orphik, nämlich die von Maestro Monteverdi.

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Rotstachlig: Igor Levit variiert Bach, Beethoven, Rzewski

Georgia_O'Keeffe,_The_Flag,_watercolor,_1918 (2)Respekt nicht bloß dafür, dass der Pianist Igor Levit „etwas Modernes“ spielt, noch dazu einen 60-Minuten-Klopper: Respekt erst recht für die Beharrlichkeit, mit der er seit Jahren für Frederic Rzewskis 36 Variations on „The People United Will Never Be Defeated!“ wirbt. Oder kämpft, müsste man wohl sujetgemäßer schreiben im Falle dieser Revolutionsmusik von 1975. Er kämpft/spielt das Stück auch in seinem zweiten Konzert im Kammermusiksaal. Im überreichen Doppelpack mit den Diabelli-Variationen, zwei Tage nach den Goldberg-Variationen (über die Bekannte des Konzertgängers des Lobes voll sind). Weiterlesen

Augenschließend: Beatrice Rana spielt Goldberg-Variationen

Canon_triplex_3Im Konzert gewesen. Verliebt.

Nicht in die Frau Beatrice Rana! Die wirkt zwar hinreißend, aber der Konzertgänger ist bereits verheiratet mit einer schlechthin vollkommenen Frau. Beatrice Ranas Klavierspiel aber weckt schon nach wenigen Tönen das unwiderstehliche Bedürfnis, die Augen zu schließen, um die Ohren so weit es geht zu öffnen. Der Konzertgänger gibt dem Bedürfnis nach und wird die Augen siebzig Minuten lang nicht mehr öffnen, bis zum letzten G mit dem himmlischen Vorschlag. Und das will bei einer so attraktiven Pianistin etwas heißen.

Denn schon die Aria von Johann Sebastian Bachs Goldberg-Variationen BWV 988 kündigt an, dass das etwas Außergewöhnliches wird zum Abschluss des Berliner Klavierfestivals im Kleinen Saal des Konzerthauses. Rana spielt langsam, voller Anmut und Konzentration, mit fast sachlichen Verzierungen. Die Basslinie in der Linken, wo sich das Thema versteckt, hebt sie deutlich, aber ohne einen Anflug von Zeigefingerhaftigkeit hervor. Weiterlesen

31. Mai 2015 – Trance-klar: András Schiff erklärt und spielt die ‚Goldberg-Variationen‘

In Berlin sind jeden Tag Musikfestspiele. Man kann morgens zu András Schiff gehen, nachmittags zum Mitsingkonzert des Rundfunkchors (oder eine Stippvisite bei der Familie machen) und abends zu den Berliner Philharmonikern unter Haitink.

Die Staatsoper schickt (wie die Komische Oper) vor jedem Besuch, den man gebucht hat, eine nette Mail zur Vorbereitung, in diesem Fall mit einer Warnung vor Verkehrsbehinderungen rund um den Ernst-Reuter-Platz durch den Velothon. Aber der Konzertgänger kommt wie immer mit dem Fahrrad, und mit dem Fahrrad kommt man in Berlin immer und überall durch. Vor den Hotels hocken zahllose besiegte, verkaterte, verzweifelte, dennoch glückliche BVB-Fans in der Morgensonne; am Salzufer ist dann auch ein einzelner siegreicher, stolzer, jubelnder, dennoch unglücklicher Wolfsburg-Fan zu sehen.

András Schiff bedankt sich fürs Kommen beim Publikum, das „am Sonntagmorgen ja auch etwas anderes“ machen könnte. Danke zurück! Auch im Namen des Bundespräsidenten und seiner Frau, die im musik- und wissbegierigen Publikum sitzen, und zwar in der zweiten (!) Reihe im Rang. Schiff wird an diesem sonnigen Vormittag auf der schwarzen Bühne des Schillertheaters Bachs Goldberg-Variationen nicht nur spielen, sondern zuvor auch erklären, und zwar ziemlich ausführlich: Er beginnt mit dem eigentlichen Thema, den 32 Harmonietönen der Basslinie, auf die man beim oberflächlichen Hören kaum achtet Featured image– weil der Gesang im Diskant der Aria einfach zu schön ist. Schiff schweift gerne ab, aber stets unterhaltsam und lehrreich. Man erfährt sogar etwas über die Gefahr des Verhakens von Manschettenknöpfen bei sich überkreuzenden Händen! Schiff erläutert sämtliche 30 Variationen inklusive kurzem Anspielen. Diese Überforderung macht auch dem besinnungslosesten Musikgenießer klar, wie überfordernd im Grunde diese Musik ist, die ihn in seiner Genuss-Trance versinken lässt.

Trotzdem versinkt man in Trance, sobald nur noch die Musik spricht. Dass es keine besinnungslose Trance ist, dafür sorgt der Didaktiker Schiff, der alles sehr klar spielt und zumal die Basstöne aufs Deutlichste hervorhebt. Er spielt sämtliche Wiederholungen, beim zweiten Mal mit immer reicheren Verzierungen. Es ist eine besondere Art von Trance, eine Mischung aus offenkundiger Schönheit und mehr gefühlter als erkannter Systematik und Symmetrie: Musik ist die versteckte arithmetische Tätigkeit der Seele, die sich nicht dessen bewusst ist, dass sie rechnet. (Leibniz) Obwohl Schiff in seiner Einführung nachdrücklich klar gemacht hat, dass die Goldberg-Variationen nicht von Kindern gespielt werden sollten und keine Sammlung von schönen Einzelstücken zum Einschlafen sind, sondern ein streng organisierter Zyklus, hebt der Konzertgänger sich im Stillen seine Lieblingsvariationen hervor: weniger die Kanons (außer dem Nonen-Kanon) als die Stücke, die an Scarlatti (Nr. 20) oder den späten Beethoven (Nr. 28) erinnern. Berückend klingt bei Schiff, selbst in der nüchternen Schillertheater-Akustik, der subtile Himmelfahrts-Beginn in Variation 26 nach der Schmerzens-Variation 25.

Das Publikum erkennt, was ihm hier beschert wird, sei es aus profunder Sachkenntnis oder instinktiver Ehrfurcht. Viele T-Shirts, Schlabber-Jeans, Bartstoppeln, Klavierstudentinnen-Rundrücken: Trotz Präsidentenpräsenz ist dies das Gegenteil einer Staatsveranstaltung, es ist ein Festtags-Morgen, in dem nur die Musik gefeiert wird. So gut wie kein Husten, lange Stille bevor der Applaus einsetzt. András Schiff verneigt sich vor dem Publikum und zuletzt zweimal vor dem Flügel.

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