In Berlin sind jeden Tag Musikfestspiele. Man kann morgens zu András Schiff gehen, nachmittags zum Mitsingkonzert des Rundfunkchors (oder eine Stippvisite bei der Familie machen) und abends zu den Berliner Philharmonikern unter Haitink.
Die Staatsoper schickt (wie die Komische Oper) vor jedem Besuch, den man gebucht hat, eine nette Mail zur Vorbereitung, in diesem Fall mit einer Warnung vor Verkehrsbehinderungen rund um den Ernst-Reuter-Platz durch den Velothon. Aber der Konzertgänger kommt wie immer mit dem Fahrrad, und mit dem Fahrrad kommt man in Berlin immer und überall durch. Vor den Hotels hocken zahllose besiegte, verkaterte, verzweifelte, dennoch glückliche BVB-Fans in der Morgensonne; am Salzufer ist dann auch ein einzelner siegreicher, stolzer, jubelnder, dennoch unglücklicher Wolfsburg-Fan zu sehen.
András Schiff bedankt sich fürs Kommen beim Publikum, das „am Sonntagmorgen ja auch etwas anderes“ machen könnte. Danke zurück! Auch im Namen des Bundespräsidenten und seiner Frau, die im musik- und wissbegierigen Publikum sitzen, und zwar in der zweiten (!) Reihe im Rang. Schiff wird an diesem sonnigen Vormittag auf der schwarzen Bühne des Schillertheaters Bachs Goldberg-Variationen nicht nur spielen, sondern zuvor auch erklären, und zwar ziemlich ausführlich: Er beginnt mit dem eigentlichen Thema, den 32 Harmonietönen der Basslinie, auf die man beim oberflächlichen Hören kaum achtet – weil der Gesang im Diskant der Aria einfach zu schön ist. Schiff schweift gerne ab, aber stets unterhaltsam und lehrreich. Man erfährt sogar etwas über die Gefahr des Verhakens von Manschettenknöpfen bei sich überkreuzenden Händen! Schiff erläutert sämtliche 30 Variationen inklusive kurzem Anspielen. Diese Überforderung macht auch dem besinnungslosesten Musikgenießer klar, wie überfordernd im Grunde diese Musik ist, die ihn in seiner Genuss-Trance versinken lässt.
Trotzdem versinkt man in Trance, sobald nur noch die Musik spricht. Dass es keine besinnungslose Trance ist, dafür sorgt der Didaktiker Schiff, der alles sehr klar spielt und zumal die Basstöne aufs Deutlichste hervorhebt. Er spielt sämtliche Wiederholungen, beim zweiten Mal mit immer reicheren Verzierungen. Es ist eine besondere Art von Trance, eine Mischung aus offenkundiger Schönheit und mehr gefühlter als erkannter Systematik und Symmetrie: Musik ist die versteckte arithmetische Tätigkeit der Seele, die sich nicht dessen bewusst ist, dass sie rechnet. (Leibniz) Obwohl Schiff in seiner Einführung nachdrücklich klar gemacht hat, dass die Goldberg-Variationen nicht von Kindern gespielt werden sollten und keine Sammlung von schönen Einzelstücken zum Einschlafen sind, sondern ein streng organisierter Zyklus, hebt der Konzertgänger sich im Stillen seine Lieblingsvariationen hervor: weniger die Kanons (außer dem Nonen-Kanon) als die Stücke, die an Scarlatti (Nr. 20) oder den späten Beethoven (Nr. 28) erinnern. Berückend klingt bei Schiff, selbst in der nüchternen Schillertheater-Akustik, der subtile Himmelfahrts-Beginn in Variation 26 nach der Schmerzens-Variation 25.
Das Publikum erkennt, was ihm hier beschert wird, sei es aus profunder Sachkenntnis oder instinktiver Ehrfurcht. Viele T-Shirts, Schlabber-Jeans, Bartstoppeln, Klavierstudentinnen-Rundrücken: Trotz Präsidentenpräsenz ist dies das Gegenteil einer Staatsveranstaltung, es ist ein Festtags-Morgen, in dem nur die Musik gefeiert wird. So gut wie kein Husten, lange Stille bevor der Applaus einsetzt. András Schiff verneigt sich vor dem Publikum und zuletzt zweimal vor dem Flügel.
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