Respekt nicht bloß dafür, dass der Pianist Igor Levit „etwas Modernes“ spielt, noch dazu einen 60-Minuten-Klopper: Respekt erst recht für die Beharrlichkeit, mit der er seit Jahren für Frederic Rzewskis 36 Variations on „The People United Will Never Be Defeated!“ wirbt. Oder kämpft, müsste man wohl sujetgemäßer schreiben im Falle dieser Revolutionsmusik von 1975. Er kämpft/spielt das Stück auch in seinem zweiten Konzert im Kammermusiksaal. Im überreichen Doppelpack mit den Diabelli-Variationen, zwei Tage nach den Goldberg-Variationen (über die Bekannte des Konzertgängers des Lobes voll sind).
Stylisher dreieckiger Klavierhocker, auf dem Levit da sitzt, kämpft und spielt. Bedenklich rundrückig und unter intensivem Kopfnicken, was der Umblattlerin das Leben nicht leichter macht. Vor dem Steinway-Flügel steht enigmatisch ein Bonsai-Kaktus im roten Töpfchen auf dem Podium.
Zunehmend fassungslos hört und erlebt man, was für ein gigantischer pianistischer Revolutionsroman sich entwickelt aus dem Thema, dem chilenischen Kampflied ¡El pueblo unido jamás será vencido!:
Klanglich geht das von archaischer Oktaven-Mussorgsky-Wucht à la Bilder einer Revolutionsausstellung bis Köln Concert, von Liszt bis Hanns Eisler und Steve Reich. Immer wieder tritt das Ohrwurmthema klar hervor, auf kompositorisch simple Weise variiert (als wärs Rachmaninows Paganini-Rhapsodie) und dabei sowas von hochvirtuos zu spielen. Dann wieder stürzt sich die Musik stockhausenhaft an die Ränder des Klangs, es gibt pedalbumpernde Atmosphères, auch Schläge, Klopfen, unvermitteltes sentimentales Pfeifen. Das lässt keinen kalt, ein Kaktusstachel im Hörfleisch. Aber kaum eine Handvoll Hörer flieht den Saal. Die ergraute Dame neben dem Konzertgänger steht kurz davor, wieder die rote Fahne zu schwenken. Nach dem Konzert erinnert sie sich bewegt an Exil-Chilenen, mit denen sie seinerzeit zusammen studierte, unbeugsame Menschen ebenso darunter wie gebrochene Seelen.
Das stellt sogar Ludwig van Beethovens Diabelli-Variationen op. 120 in den Schatten. Diese Übertrumpfung hätte dem Übertrumpfer Beethoven, der Anton Diabellis Künstlervereins-Ausschreibung trollte, doch sympathisch sein müssen.
Fürs Empfinden des Konzertgängers verträgt die Musik von Rzewski Igor Levits tiefen Ernst besser als die Diabelli-Variationen. Ist es ein Sakrileg, wenn Levits Beethoven einen kaltlässt? Obwohl alles daran so richtig ist, all die genau durchdachten Kontraste zwischen Aggression und Entrückung? Dem Konzertgänger sind diese mit hartem, ja stachligem Anschlag gespielten Diabelli-Variationen zu akkurat ausbuchstabiert, Variation für Variation mit einigen ziemlich langen Pausen vor dem Ansetzen. Und ganz humorfrei.
Vielleicht liegts an der Tagesform des Hörers, oder am Platz. Levits Rang als Pianist steht ja außer Frage. Und für die enervierenden Störungen kann er sowieso nichts: auch nicht fürs Schnarchen in Block B rechts! Und nichts fürs Piepsen des Blutzuckermessgeräts in Block E links. Und schon gar nichts für den Hörer auf dem Podium, der Levit verblüffend ähnelt und begeistert Variation 28 mit beiden Händen auf den Oberschenkeln mitklopft, immer einen schmerzlichen Tick neben dem Takt.
Aber was sollen da erst die Vögel im nächtlichen Tiergarten sagen, wenn sie den heimradelnden Konzertgänger ¡El pueblo unido jamás será vencido! kunstpfeifen hören?
…und was ist mit den Goldberg-Variationen…?
Wie bei Beethoven’s Diabelli: auch eher was für den Kopf als für’s Herz…?