Ein bisschen wie ein Musiklehrer schlurft Christian Zacharias beim Klavierfestival im Kleinen Saal des Berliner Konzerthauses auf die Bühne: Aber keiner jener Musiklehrer, die das halsstarrige Dummseinwollen der Schüler ausgemergelt hat, sondern einer, den die Schüler in seiner Schlaksigkeit mögen und bewundern, weil er kompetent und zugleich entspannt ist. Seine Schuhe glänzen nicht, die Hose schlottert, das Hemd hängt über den Bund, es ist vielleicht sein einziges. Eine äußerst sympathische Erscheinung.
Scheinbar tiefenentspannt spielt sich Zacharias auch ins Allegro ma non troppo von Franz Schuberts Sonate a-Moll D 537, so dass man sich zuerst fragt: troppo moderato? Der Umgang mit dem Pedal scheint manchmal etwas zu entspannt. Aber dann zieht Zacharias, etwa durch überraschende Temporückungen, die Zügel plötzlich fest und lässt sogleich wieder locker. Da entpuppt sich die Entspannung als Schein, aber ohne jede Übertreibung oder Exaltation, das atmet etwas von höherer pianistischer Freiheit. Höher: will sagen Extravaganzen ohne Zurschaustellung oder gar Angeberei.
Kaum Zerrissenes dann auch in Beethovens Sonaten Nr. 27 e-Moll op. 90 und Nr. 30 E-Dur op. 109. Das Lyrische, Singende tönt wunderbar, aber Extreme scheint Zacharias zu scheuen — vielleicht aus berechtigter Sorge, den Saal zu sprengen? Denn der Steinway rauscht und braust auch so schon bedenklich. (Im Vergleich zum sonst zu hörenden Yamahaflügel ein herrlich unausgewogenes Farbengewitter.)
Ähnlich der Eindruck bei Robert Schumanns Davidsbündlertänzen. Auf eine etwas reservierte, manchmal fast kühle Art poetisch, aber in den Kontraststücken kaum einmal wirklich aufbrausend oder hahnbüchen oder so ungeduldig, dass es die Façon zu sprengen drohte. Wenn man darauf bei Schumann Wert legt, vermisst man schon etwas.
Schöne Zugaben: eine Scarlatti-Sonate, Schumanns Arabeske mit hauchzartem Bass.
Selbstzweiflerisches Fazit: Vielleicht mangelts ja bloß am eigenen Hörsinn und der eigenen Aufnahmefähigkeit an diesem Abend, manchmal hört man an einem Konzert komplett vorbei. Verspürt man nur fälschlich, bei aller Bewunderung für die Kompetenz, einen Hauch von gediegener Klassikerpflege? Ist man selbst der halsstarrige, dummseinwollende Schüler? Ist man selbst — zu entspannt? Der Konzertgänger freut sich, dabei zu sein, aber das Lodern dieser Musik teilt sich ihm nicht mit.
Anders drei Tage zuvor: Yevgeny Sudbins Programm zur Eröffnung des Klavierfestivals war demgegenüber sehr seltsam, vielleicht teilweise unpassend und definitiv zu kurz. Aber es hatte Widerhaken und hohen Erinnerungswert; gerade bei einem Festival nicht verkehrt.
Noch drei weitere reizvolle Konzerte beim Klavierfestival.
Das Fazit des Konzertgängers: „[Er] freut sich, dabei zu sein, aber das Lodern dieser Musik teilt sich ihm nicht mit.“ stand für mich leider schon nach 15 Minuten fest. Anfangs dachte ich noch: Wie schön, einmal zu erleben, dass ein Pianist nicht mit den Werken kämpfen muss. Doch je weiter der Abend voranschritt, desto mehr wünschte ich, dass Zacharias wenigstens einmal, wenigsten ein bisschen UM die Musik ringen würde, um ihr – nach tausend Übungsstunden und vielleicht hundert Aufführungen – doch einen besonderen Ausdruck, einen besonderen Gedanken, einen inspirierten interpretatorischen Ansatz abzugewinnen. Der Wunsch aber sollte ein frommer – sprich: unerfüllt bleiben. Zacharias hämmerte sich nonchalant an der musikalischen Nullinie entlang, ohne im Klnaglichen einen subtanziellen Unterschied zwischen Schubert, Beethoven und Schumann zu vermitteln. Vielelicht war das ja programmatische Absicht, am Ende aber wenig begeisternd. Und auch das technische Spiel, das keineswegs in allen Läufen oder Akkordfolgen bestach, tröstete nicht, denn technische Souveränität ist nicht das, was ich beim Besuch eine Recitals als Erstes suche. Lichtblicke, wenn man so will, gab es gleichwohl: in langsamen, leisen Partien; und die erste Zugabe, die Scarlatti-Sonate, erwies sich für mich als Höhepunkt des ganzen Abends.
Tja, jetzt hätte ich ja gerne gelesen, dass ich total taub und das Rezital super aufregend war… andererseits bin ich erleichtert, dass es doch nicht nur an mir lag, weil ich wirklich sehr sehr müde war. Sie formulieren sehr klar, was ich so ungefähr gehört habe. Danke dafür.
Ja, bei Scarlatti gingen einem Herz und Ohren auf, das war das Highlight.
Fehler und Holperei, in Maßen, sind mir eher egal, wenn denn die Interpretation spannend ist.
„Manchmal hört man an einem Konzert komplett vorbei.“: tragisch aber richtig. Hier finde ich Zacharias doch sehr gut (allerdings nicht was das Dirigieren angeht): https://youtu.be/Ww4VWktdjyU
Ja, das ist wirklich gut. Ich habe ihn auch aus einigen Konzerten mit Orchestern in Berlin nur in bester Erinnerung.