Märchenonkeltreffen im Kammermusiksaal: Wenn Nikolaj Karlowitsch Medtner der nostalgische Geschichtenerzähler war, dann war Schostakowitsch das Väterchen mit den nicht endenden Gruselstories. Beide Haltungen haben ihre eigene, auch biografisch beglaubigte, Wahrheit. Kaum ins Hirn zu kriegen aber, dass Medtners Klavierquintett C-Dur und Schostakowitschs e-Moll-Trio ungefähr gleichzeitig entstanden.
Oder auch alles andere als gleichzeitig. Dann Medtner arbeitete an seinem Quintett, das erst 1955 und damit vier Jahre nach seinem Tod uraufgeführt wurde, anscheinend ein halbes Jahrhundert lang. Zum Glück nicht durchgehend, es gibt ja sehr viel andere Klaviermusik von ihm und auch mehrere Klavierkonzerte.
Es rappelt Raritäten: neunundneunzig Nixen und Nöcks, elfundelfzig Elfen und irisierende Irrlichter von sage und höre zweiundzwanzig verschiedenen Komponisten. Acht von ihnen Klassiker, von sechsen hat der Konzertgänger noch nie gehört, von weiteren acht zumindest schon mal den Namen vernommen; wenn auch nicht immer als Komponisten. Während im (vielleicht für sowas allzu gut ausgeleuchteten) Großen Saal der Philharmonie das DSO den Nixe-im-Mondschein-Schwelger Rusalka konzertant aufführt, hält im Kammermusiksaal die offizielle Saisongästin der Berliner Philharmoniker Hof, Marlis Petersen, quellkundige Nickerine unter den Sopranistinnen: Anderswelt heißt ihr Liederabend.
Auf Nikolaj Medtner hat Berlin gewartet. Zumindest der klavieristisch interessierte Teil der Stadt. Der ist, wie sich zeigt, groß genug, dass schon die Eröffnungsveranstaltung in der Schwartzschen Villa heftig überlaufen ist. Da niemand abgewiesen werden soll, drängt man sich so innig, dass bald Temperaturen herrschen wie in der berlinweit berüchtigten Tropenlinie U9, an deren südlicher Endstation die Villa liegt. Dass der Andrang gerechtfertigt ist, daran hat der Konzertgänger keinen Zweifel, auch wenn er aus Zeitgründen nur die ersten beiden Konzerte des am Samstag zu Ende gegangenen Festivals medtner classics besuchen konnte. Weiterlesen →
Uralter weißer Mann, trotzdem näherer Betrachtung und Behörung wert: Nikolaj Karlowitsch Medtner (1879-1951) dürfte ein Kandidat für jenen wichtigen Nebenhauptgipfel des Piano-Olymps sein, auf dem die unbekanntesten unter den bedeutendsten Klavierkomponisten Nektar schlürfen, Ambrosia knabbern und darüber lächeln, wie sie hilflos als Geistesbrüder von Rachmaninow oder russische Brahmse beschrieben werden. Am halbgöttlichsten unter den unbekannten Olympischen dürfte freilich der sein, nach dem ein Asteroid benannt wurde, wie es Medtner von sich sagen darf. Eins der bekanntesten Werke aus Medtners umfangreichem Schaffen ist wohl die Sonata reminiscenza aus der Zeit nach dem Ersten Welttkrieg, die manch einer in seiner Emil-Gilels-Box stecken hat. Um aus Reminiszenz Praeminiszenz zu machen und die Ohren, Herzen und Köpfe der Zukunft für diesen Komponisten zu öffnen, veranstaltet die (was es nicht alles gibt) Internationale Nikolaj Medtner Gesellschaft das schickobello medtner classics benamte erste deutsche Medtner-Festival. Das findet vom 29. Oktober bis zum 3. November in Berlin statt, mit Ausstellung, Diskussionen, Medtner-Café und vor allem viel Kammer- und Klaviermusik. Und zwar alles bei freiem Eintritt; nur den Kaffee wird man wohl selbst zahlen müssen. Weiterlesen →
Domenico Scarlatti fiele wahrscheinlich die Kinnlade auf den Jabot, wenn er im Konzerthaus säße und seine Nachbarin fragte, von wem denn diese hinreißenden Stücke seien, die der hagere junge Virtuose da spiele: Nocturnes, Fantasien, Etüden, unendlich nuanciert und durchgestuft in Klangfarben, Dynamik, Agogik und dabei ungeheuer dezent, von ferne an ein Cembalo erinnernd.
Fünf Sonaten von Domenico Scarlatti, wäre die Antwort der Nachbarin, auf einem modernen Konzertflügel gespielt.
Unspektakulärer kann ein Eröffnungskonzert nicht beginnen: Nikolai Lugansky spielt zum Beginn des Berliner Klavierfestivals 2016 im Konzerthaus Zwei Scherzi D 593 von Franz Schubert. Zumal das erste in B-Dur hat bei Lugansky Spieldöschen-Charme, Lugansky führt es gewitzt mechanisch vor, fast klingt es wie ein Stück aus Schostakowitschs Tanz der Puppen. Man ist erstaunt, dass dieses eingängige Stück noch nicht von Klavierschülern zugrunde geübt wurde.
Das gleichermaßen enthusiastische wie professionelle Berliner Klavierfestival, vom Pianomaniac Barnaby Weiler im fünften Jahr privat auf die Beine gestellt, findet im Kleinen Saal des Konzerthauses am besten denkbaren Ort statt.
Während Grigory Sokolovs extraterrestrische Genialität in der riesigen Philharmonie vor einigen Tagen wie stets von ferne zu ahnen war, hört man hier direkt und nah. Der Yamaha-Flügel ist eher eine Geschmacks- als Qualitätsfrage, für den Geschmack des Konzertgängers klingt der Diskant allerdings schon arg reizlos. Was bei Schubert natürlich schon ein Handicap ist. Seelenvoll ist anders; ein Schwachstarktastenkasten zweifellos, ein Klangfarbenmalkasten eher nicht.
Aber Lugansky ist ein nobler Pianist mit klarem Anschlag, und die Ausgewogenheit des Flügels kommt seinem virtuosen, dabei im besten Sinn aufgeräumten Spiel entgegen. Dabei geht er Schuberts Impromptus D 935 mit sympathisch altmodischen Temporückungen an, das erste in f-Moll drängend, das zweite in As-Dur eher Andante als Allegretto. Im dritten (mit dem Rosamunde-Thema) zögert er den Beginn der Variation IV in der schönsten aller Tonarten, Schuberts ureigenem Ges-Dur, unendlich hinaus: himmlisch ist das. Wie auf ganz andere Weise auch Variation V, bei Lugansky rasend schnell, federleicht virtuos.
Auf eigenstem Terrain ist Lugansky, immerhin offizieller Volkskünstler Russlands, im zweiten Teil des Programms. Musik von Nikolai Medtner (1880-1951) kann man in Berlin sonst eigentlich nur im Pianosalon Christophori hören. Luganskys Auswahl aus den Vergessenen Weisen op. 38, einer Art Nachlass zu Lebzeiten, weckt den Wunsch, mehr von dieser alles andere als avantgardistischen, aber überaus stimmungsvollen Musik kennenzulernen: insistierend und irrlichternd die Danza rustica, ohrwürmlich die Canzona serenata, exaltiert die Danza silvestra, ungeheuerlich sich steigernd das Schlussstück Alla Reminiscenza.
Reiner Klaviergenuss schließlich die Moment Musicaux – nicht von Schubert, sondern von Sergej Rachmaninow. Lugansky spielt die Nummern 3 bis 6, darunter einen Trauermarsch (Andante cantabile in h-Moll), ein mächtig gewaltiges Presto in e-Moll für Linke-Hand-Protze und schließlich den majestätischen C-Dur-Schlussrausch, von Lugansky brillant aus dem Handgelenk geschüttelt. Das nennt man wohl russische Schule. Spektakulärer kann ein Eröffnungskonzert nicht enden.
Hiermit sei Lugansky zum Volkskünstler der Menschheit ernannt. Zumal er einem sehr ungezogenen Teil der Menschheit, dem unruhigen Berliner Publikum, noch vier Zugaben schenkte:
das Wiegenlied op. 16 von Tschaikowsky in der Bearbeitung von Rachmaninow
das Intermezzo aus Schumanns Faschingsschwank aus Wien (das neulich auch Yefim Bronfman nach seinem Prokofjew-Rezital zugab)
Hier noch eine kleine Zugabe von Lugansky aus dem Jahr 2008 (als Inspiration, mal wieder die linke Hand zu trainieren):
Nächstes Konzert des Klavierfestivals mit Benjamin Grosvenor am 21. Mai; weitere Konzerte mit Paul Lewis (23. Mai), Sophie Pacini (27. Mai) und Nikolai Demidenko (2. Juni). Anscheinend für alle Konzerte noch ein paar Karten erhältlich. Zum Klavierfestival
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