Es rappelt Raritäten: neunundneunzig Nixen und Nöcks, elfundelfzig Elfen und irisierende Irrlichter von sage und höre zweiundzwanzig verschiedenen Komponisten. Acht von ihnen Klassiker, von sechsen hat der Konzertgänger noch nie gehört, von weiteren acht zumindest schon mal den Namen vernommen; wenn auch nicht immer als Komponisten. Während im (vielleicht für sowas allzu gut ausgeleuchteten) Großen Saal der Philharmonie das DSO den Nixe-im-Mondschein-Schwelger Rusalka konzertant aufführt, hält im Kammermusiksaal die offizielle Saisongästin der Berliner Philharmoniker Hof, Marlis Petersen, quellkundige Nickerine unter den Sopranistinnen: Anderswelt heißt ihr Liederabend.
Diese Anderswelt wird bevölkert von garstigen Nöcks wie Hansi Pfitzner und wucherbärtigen Sirenen wie Johnny Brahms, aber auch von Wenig- und Unbekannten wie den Hermanns Reutter oder Zumpe und Komponisten, die man allein wegen ihrer Namen unbedingt hören will: Yrjö Kilpinen und Aare Merikanto und Sigvaldi Kaldalóns. Und dann sind da Namen, die innig vertraut sind, nur halt nicht als Komponisten: Bruno Walter etwa und Friedrich Gulda. Beide haben ebenso wie ein gewisser Julius Weismann Eichendorffs Elfe vertont:
Bleib bei uns! Wir haben den Tanzplan im Tal
(1837)
Bedeckt mit Mondesglanze,
Johanniswürmchen erleuchten den Saal,
Die Heimchen spielen zum Tanze.
Die Freude, das schöne leichtgläubige Kind,
Es wiegt sich in Abendwinden:
Wo Silber auf Zweigen und Büschen rinnt,
Da wirst du die Schönste finden!
Die Freude an der Wiederentdeckung Weismann sinkt ein wenig, wenn man liest, dass er 1935 im Auftrag der „Nationalsozialistischen Kulturgemeinde“ eine neue Sommernachtstraum-Bühnenmusik schrieb, um die des Juden Mendelssohn zu verdrängen. Nun, eine faire Beurteilung Weismanns mag komplexer sein, und seine Elfe ist sehr schön. Die von Bruno Walter aber zirpt und trillert und perlt am schönsten. Und dass Fritze Gulda sich 1946 als Sechzehnjähriger ziemlich gekonnt an sowas probierte, ist auch des Erfahrens wert.
Die Anderswelt mit ihren Fabelwesen ist das Mittelstück einer Trilogie von Marlis Petersen, die 2017 mit der Welt begann, voll Himmel und Sonne und Erde und Schwänen und auch dem Lied Mein Stern von Clara Schumann (der man aus gegebenem Anlass gern auf dem diesjährigen Musikfest einmal begegnet wäre). Das dritte Album Innenwelt erscheint just einen Tag nach dem Konzert; dass sie hier nicht dieses Programm singt, ist nur mit langfristiger Planung bei der Stiftung Berliner Philharmoniker erklärbar, deren Artist in residence Petersen in dieser Saison ist. (In Kirill Petrenkos Antrittskonzert war sie schon als Sopranistin in Beethovens Neunter und mit Alban Bergs Lied der Lulu zu hören, ihrer Paraderolle).
Es ist schön, diese große Stimme hier so nah zu erleben. Verführerische Vokale, lockende Höhen. Petersens Diktion ist bezückend genau, zum Mitlesen, ohne dass es ihre Stimme Innigkeit oder Ausdruckskraft kostete. Nur gelegentlich wünscht man sich ein noch intimeres Runterdimmen, etwa im dämmernden Beginn von Brahms‘ Sommerabend. Aber wie subtil und tiefenbedrohlich gelingt ihr dann in diesem Lied das Plätschern und Atmen in der Stille, das der Wandrer hört. Oder die dramatische Zuspitzung, wenn in Christian Sindings Ich fürcht‘ nit Gespenster ein schauriges Nachtweib ohne alles Gewand aus dem Wasser heraufrauscht; und sehr lustig ist das fiese Hähä der Sängerin, nachdem das lyrische Ich, eine unschuldig zierliche Schöne, ihrerseits ihre viel schönere Brust entblößt hat und die böse Wasserfrau darum mit Schande versinken muss.
Gedicht von Gottfried Keller, übrigens. Sachen hat der geschrieben, man wundert sich. Ansonsten ist hier schon auch lyrisches C-Repertoire dabei, wenn es etwa in August Kopischs von Carl Loewe vertontem Der Nöck heißt: Die Bäume heben mächtig / Die Häupter grün und prächtig. Loewes beide Lieder im Programm fließen eingängig, fast schlagerhaft, während die berühmteren Namen Brahms, Reger, Hugo Wolf dann eben doch oft auf einem anderen Level stehen. Ein Höhepunkt des Abends ist Zemlinskys Und hat der Tag all seine Qual, große Opernszene. Eindrucksvoll auch die wallende Sehnsucht in Wilhelm Stenhammars Fylgia, wo Marlis Petersen inkommensurable Anrufungen wie du eftertrådda, du oåtkomliga schmachtet.
Der Pianist Camillo Radicke mit seinem warmen, vollen Ton ist (wie man gern floskelt) mehr als ein Begleiter. So freut man sich jedesmal, wenn der Klavierpart über das Erwartbare hinaustritt: sehr interessant in der Goethe-Vertonung Elfenliedchen des zu wenig gespielten Nikolaj Medtner zum Beispiel. Aber auch die drängenden Wellen in Griegs Mit einer Wasserlilie oder die Verwandlung des Klaviers in eine Flöte in Aare Merikantos Kesäyö sind entzückend.
Es kann freilich passieren, dass der Hörer sich nach einer ganzen Weile Nöcks und Nixen doch mal überwässert fühlt. Auch das um den Notenständer geschlungene Kunststoffgrün und Petersens selbstgedichtete Zwischentexte sind nicht unangreifbar – wenngleich die versifizierte Aufforderung zum CD-Kauf vor der Pause Charme hat. Wie auch die Zugabe: ein von Gregor Hübner vertontes Gedicht von Marlis Petersen, in dem ein Troll dem Schumanngroll begegnet und auch sonst allerlei Schabernack treibt; aber doch mit sanftem Scherz, Welten fern von den perversen Ekeltrollen, die etwa im Internet missliebige Politikerinnen verfolgen; was zeigt, dass es heutzutage die verschiedensten Anderswelten gibt – diese hier ist eine, in die man sich sehr gern entführen lässt.