Märchenonkelig

Medtner und Schostakowitsch bei Spectrum

Märchenonkeltreffen im Kammermusiksaal: Wenn Nikolaj Karlowitsch Medtner der nostalgische Geschichtenerzähler war, dann war Schostakowitsch das Väterchen mit den nicht endenden Gruselstories. Beide Haltungen haben ihre eigene, auch biografisch beglaubigte, Wahrheit. Kaum ins Hirn zu kriegen aber, dass Medtners Klavierquintett C-Dur und Schostakowitschs e-Moll-Trio ungefähr gleichzeitig entstanden.

Oder auch alles andere als gleichzeitig. Dann Medtner arbeitete an seinem Quintett, das erst 1955 und damit vier Jahre nach seinem Tod uraufgeführt wurde, anscheinend ein halbes Jahrhundert lang. Zum Glück nicht durchgehend, es gibt ja sehr viel andere Klaviermusik von ihm und auch mehrere Klavierkonzerte.

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Endlich: Ursula Mamlok, Ravel und Messiaen bei Spectrum

Was für unerwartete, aufregende, bewegende Anfänge in einem Ende stecken können! Als die 83jährige Komponistin Ursula Mamlok im Jahr 2006 nach dem Tod ihres Mannes von New York nach Berlin zog, war das nicht irgendein Umzug in einen Altersruhesitz. Denn Berlin war die Stadt, die die gerade 16 gewordene Ursula Lewy im Februar 1939 mit ihrer jüdischen Familie gerade so noch hatte verlassen können. Heimat mochte sie den Ort verständlicherweise nicht mehr nennen, der zur Heimstatt des Völkermords geworden war und an den sie dennoch an ihrem, noch taghellen, Lebensabend zurückkehrte. Frank Sumner Dodge aber verwendet das Wort mehrmals in seiner kurzen Begrüßung vor dem Konzert im Kammermusiksaal der Philharmonie – der amerikanische Gründer jenes seit 1988 bestehenden, hochwertvollen, unkaputtbaren Formats Spectrum Concerts, bei dem Mamlok (wie sie seit ihrer Heirat 1947 hieß) ein spätes musikalisches Zuhause fand. Heimat vielleicht. Ihr, die 2016 in Berlin starb, ist das ganze Konzert gewidmet.

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Wiederschiedsfreudicht: Spectrum im Kammermusiksaal

Freudige Wiederkehr, …

Zu den besonders lieben Kulturbekanntschaften, um die der Konzertgänger sich während der Konzert-Prohibition entsprechende besonders schwere Sorgen machte, gehört die seit 33 Jahren existierende Kammermusik-Reihe Spectrum Concerts. Denn die gehört mit ihrem speziellen Profil (maximales Niveau, minimale Subvention) seit jeher zu den Risikopatienten des Konzertbetriebs. Einerseits klassische Kammermusik des 18. und 19. Jahrhunderts, andererseits kaum je zu hörende Komponisten des 20. wie Ernst Toch, Robert Helps oder Ursula Mamlok werden gespielt, getragen von einer treuen Unterstützerschar. Zum Comeback gehts mit Brahms und nochmal Brahms erstmal quasi ins Herz aller Kammermusik.

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Verunruhigt: Saisoneröffnung Spectrum Concerts

Andere musikalische Institutionen starten dieser Tage in die Rückrunde, die Spectrum Concerts Berlin hingegen eröffnen die Saison. Dafür ist weder Spleen noch ein julianischer Konzertkalender verantwortlich, sondern die ein Leben lange Mühsal dieser Reihe, sich an ebendiesem zu halten, dem Leben nämlich: Ein halbes Jahr Pause gabs mal, drum beginnt die 32. Saison erst nach 31,5 Jahren. 2020 wird ein Jahr der großen Besetzungen, mit Quin-, Sex-, ja Oktetten. Im Eröffnungskonzert im Kammermusiksaal der Philharmonie gibts sogar Vigintiduette und zwei besondere Violinkonzerte.

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Tipp: Spectrum-Saisonstart am Montag

Stimmungsgärtner bei der Arbeit

Spät starten sie in die Saison, aber sie starten: Es gibt in Berlin Ohren, die behaupten, die Spectrum Concerts seien die feinste Kammermusikreihe der Stadt. Ab Montag lässt sich das wieder überprüfen. Das erste Programm im Kammermusiksaal verspricht ein Zusammentreffen von Brüdern im Widergeiste: Wenn Tschaikowskys Klaviertrio einen Höhepunkt elegischer Stimmungsmalerei in der romantischen Kammermusik (Karl Böhmer) darstellt, dann ist Schostakowitschs letzte, klappermorbide Sinfonie ein Highlight der Verstimmungskunst, vulgo Stimmungstöterei. Und während das Trio von 1881 ins Orchestrale strebt, wird die Sinfonie von 1971 bei Spectrum in einer Version erklingen, die ihren verkammermusikten Charakter auf die Spitze treibt – nämlich in einer Fassung für Klaviertrio und zwei Schlagzeuge. Und um den Tod geht’s bei Schostakowsky und Tschaikowitsch sowieso immer.

Am Montag, dem 11. März, um 20 Uhr im Kammermusiksaal. Einführung von der klugen Isabel Herzfeld eine halbe Stunde davor. Im April gilts dann Korngold, im Juni Mozart und Brahms. Karten von 15 bis 45 Euro.

Nachtrag: Eine schöne Besprechung des Konzerts von Matthias Nöther in der Mottenpost.

Zum Saisonprogramm von Spectrum Concerts

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Schwungvoll blühend: Korngold und Tanejew bei Spectrum Concerts

Allegorie der Kammermusik, ca. 1900

Drei Merkmale tollkühner Kammermusik: 1. Programme voller unbekannter, vergessener, verdrängter Werke, 2. Besetzungen ohne Staraufgebot, 3. dennoch ein langes Leben auch ohne öffentlichen Geldsegen. Insofern ist auch das letzte Programm der Saison ein Beweis für die hartnäckige Tollkühnheit der Spectrum Concerts: Obwohl es seit kurzem wohl einen fördernden Sockelkleckerbetrag gibt (und irgendwann auch mal wieder die zum Star gewordene Spectrum-Geigerin Janine Jansen vorbeischauen wird), ist das ein kompromissloses Programm vom Feinsten und Sinnlichsten, was die fünf musikalischen Fachkräfte da anbieten. Denn Korngold und Tanejew fegen schwerlich die Straßen Berlins leer und den Kammermusiksaal voll. Der Riesenauflauf rund um die Philharmonie gilt vielmehr Simon Rattles letztem Programm im Großen Saal. Der Konzertgänger wird von der zweiten Rattle-Aufführung am Mittwoch berichten. Denn – Tanejew geht vor. Weiterlesen

Wehwellig: Robert Helps, Brahms, Bartók bei Spectrum

Spät starten die Spectrum Concerts in die Saison, aber sie tuns, und bessere Kammermusik wird man in Berlin schwerlich finden – selbst wenn der erwartete Höhepunkt gar nicht mal das aufregendste Stück des Abends wird. Ein Nachtstück, ein Herbststück, ein Frühlingsstück im Kammermusiksaal. Weiterlesen

Klangvoll: Schumann und Brahms bei Spectrum Concerts

CHT165874Im Grunde ein Rätsel, warum der Kammermusiksaal nicht rappeldicht ist: Drei der klangvollsten Werke von Schumann und Brahms im Rahmen der interessantesten, abwechslungsreichsten Kammermusikreihe Berlins. Nur die Namen der Musiker, die bei Spectrum Concerts spielen, sind zwar klangvoll, bekannt, aber nicht berühmt. Nebolsin, Braunstein, Brovtsyn, Stumm, Andrianov.

Nachwuchs ist das nicht, sondern Crème de la crème. Weiterlesen

8.1.2017 – Vollendet: Janine Jansen & Co spielen Korngold, Berg, Schönberg

emotionheaderMittags Rodeln, abends  Schönberg. Tagsüber ruft der Schnee in den Park, am Abend Spectrum Concerts in den Kammermusiksaal. Das ist die interessanteste, vielfältigste, immer hochklassige, kurzum: wohl beste Kammermusikreihe, die es in Berlin gibt. Nur Star-Appeal fehlt meistens, so dass der Saal manchmal halbleer ist und die Reihe seit Jahren immer mal wieder ums Überleben kämpft.

An diesem Abend ist jedoch ein Star dabei, darum ist der Saal nicht halbleer, sondern halbvoll: die niederländische Geigerin Janine Jansen, die Spectrum als ihre kammermusikalische Heimat bezeichnet. Unter den sechs Musikern des Abends ragt sie jedoch in keiner Weise heraus – was für Jansens kammermusikalischen Spirit spricht, aber natürlich auch für die Qualität der anderen.

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13.5.2016 – (Im)perfect: Bratschenmusik mit Mozart, Brahms, Ligeti, Benjamin

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Freitag der 13. im Zeichen der Bratsche: Fünf Werke in wechselnden Besetzungen, in denen The imperfect instrument (so der Titel des Abends) ganz unterschiedliche Rollen spielt, stehen bei den immer an- und aufregenden Spectrum Concerts im Kammermusiksaal auf dem Programm.

Herrlich gebratscht und sehr sympathisch moderiert (ungeschwätzig, manchmal etwas allgemein) wird das Konzert von der amerikanischen Violistin Jennifer Stumm – hier zu sehen in einem Bratschenvortrag von 2011:

Zwei Werke von Mozart und Brahms beweisen, dass ein Quintett mehr ist als ein Quartett mit einer Bratsche zu viel. Wolfgang Amadeus Mozarts Streichquintett Nr. 4 g-Moll KV 516 (1787, parallel zu Don Giovanni komponiert) prägt die Viola nicht nur durch Kleinigkeiten wie die eindringlichen Schleiferfiguren im Adagio ma non troppo, sondern grundlegend durch die Verstärkung der mittleren, menschlichen Stimmlage. Denn die menschliche Stimmung ist hier sehr fahl: Im Kopfsatz hängt das Seitenthema im selben g-Moll wie das erste Thema, eine betrübliche Atmosphäre, die sich in zackigen Akzenten im Menuett und in der überlangen Adagio-Einleitung des Finales noch schmerzlicher ausbreitet; selbst wo der Übergang nach G-Dur gelingt, bleibt sie spürbar. Ideal austariert ist der Gemeinschaftsklang der fünf Musiker, geführt vom Primarius Boris Brovtsyn mit herrlich leuchtendem Geigenton.

Noch wunderbarer gelingt dem Ensemble Johannes Brahms‘ 2. Streichquintett G-Dur op. 111 (1890), ein überreiches Spätwerk, das von gewichtiger Brahmsstrenge bis zu Johann-Strauß-Grüßen im Seitensatz alles enthält, was des Brahmsfreunds Herz begehrt. Und des Bratschenfreunds: Hier tritt sie viel aus- und eindrücklicher hervor, im Variationen-Adagio lässt Stumm ihr Instrument anrührend singen. Aus dem doch überschaubaren Publikum sind danach mehr Bravorufe zu hören als nach manch rappelvollem Philharmonikerkonzert. (Angesichts offenbar teils kläglicher Leistungen bei einem anderweitigen Brahmszyklus mit Starbesetzung ist der Brahmsfreund gut beraten, sich den 30.3.2017 bei Spectrum Concerts vorzumerken.)

Zuvor stand die Bratsche bei drei anderen Werken noch mehr im Rampenlicht. In György Ligetis becircender Sonate Hora Lunga sogar als Solistin: ein seelenvoller Gesang ausschließlich auf der C-Saite voll falscher Töne. Die natürlich gar nicht falsch sind, sondern Ligetis fantastischer Spekulation entspringen, die Bratsche hätte eine um eine Quinte tiefere, real nicht vorhandene F-Saite, und deren 5., 7. und 11. Oberton wären dann die im temperierten System ‚falsch‘ klingenden Naturtöne. Da die F-Saite imaginär ist, bitte ich den Bratschenspieler, die Intonationsabweichungen bewusst zu greifen. Was Jennifer Stumm umwerfend gelingt, ein Stück von traumhaft präziser Schrägheit, dessen Flötentöne sich schließlich in höchste Höhen pfeifen, um sich ins Oberton-Nirvana aufzulösen.

In den schönen Zwei Gesängen op. 91 von Johannes Brahms geht die Viola eine naheliegende, doch nicht immer gelingende Verbindung mit einer Altstimme (Renata Pokupić) ein. Das Geistliche Wiegenlied mit der Melodie des Weihnachtsliedes Joseph, lieber Joseph mein komponierte Brahms 1863 zur Hochzeit von Joseph Joachim und Amalie Schneeweiß, die Gestillte Sehnsucht 1884 zur Verhinderung von deren Scheidung. Wenn selbst dieses schöne Lied die Ehe der Widmungsträger nicht retten konnte, dürfte nicht mehr viel zu kitten gewesen sein. Auch im Lied umarmt die Bratsche am Ende eher sich selbst als die Frauenstimme.

Der 1960 geborene George Benjamin lässt hingegen die Bratsche ihresgleichen heiraten: Sein phänomenales Viola, Viola für zwei Violen (1997) durchschreitet musikalische Welten vom fernsten Sphärenton bis zu einem hochkomplexen Stimmen- und Tongeflecht, das doch unmöglich nur zwei Bratschen hervorbringen können… Jennifer Stumm und ihr Partner Lars Anders Tomter übertreffen sich selbst. Und das inspirierende Programm dieses Konzerts schenkt dem Hörer die verblüffende Einsicht, wie auffällig die weitläufige Spannung von Benjamins Klangwelten der ganz anders tönenden Weite von Brahms G-Dur-Quintett ähnelt. Wenn das nichts ist!

Nächstes Spectrum Concert am 17. Juni, mit den Goldberg-Variationen… für Streichtrio!

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3.1.2016 – Zwingend: Erwin Schulhoff und Schostakowitsch bei Spectrum Concerts

Mögen andere Berufstätige gemächlich ins neue Jahr schlurfen – diese Musiker legen mit 250 Prozent los: Beim ersten Termin 2016 der Spectrum Concerts, der hochgelobten, stets gefährdeten, ewig jungen  Kammermusikreihe, die bald 30 Jahre alt wird, gibt es nicht nur vier Werke des deutsch-böhmisch-jüdischen Komponisten Erwin Schulhoff, die bereits ein Konzert füllen würden. Im zweiten Programmteil erklingt im Kammermusiksaal der Philharmonie zudem das stalinpreisgekrönte Klavierquintett g-Moll op. 57 von Dimitri Schostakowitsch aus dem Jahr 1940.

Prokofjew mäkelte zwar, in Schostakowitschs Quintett sei jeder Ton kalkuliert. In keinem Takt geht Schostakowitsch ein Risiko ein. Wenige Jahre, nachdem Schostakowitsch wegen westlicher Dekadenz in die Schusslinie der Prawda geraten war, wäre das ja auch verständlich gewesen. Aber das Quintett ist, trotz äußerlicher Brillanz und einer gewissen Glätte, durchaus abgründig und zwiespältig. Es beginnt mit Präludium und Fuge, und im Unterschied zu Bach ist bei Schostakowitsch die Fuge klangschöner und emotionaler. Das Brodeln unter ihrer gedämpften, verschatteten Oberfläche springt den Hörer an und bleibt auch bei den drei eingängig scheinenden Sätzen präsent, die noch folgen: einem Scherzo mit Chatschaturjanklingeln, einem Intermezzo, in dem der Hörer sich ständig fragt, aus welchem herzzerreißenden Film er diese Musik bloß kennt, und einem Finale, das über elegische Felder hinweg beschwingt bis triumphal klingt. Die Musiker Boris Brovtsyn, Valeriy Sokolov, Maxim Rysanov, Torleif Thedéen und Eldar Nebolsin spielen das Stück mit ausdauernder Brillanz – schöner Ton aus tiefster Finsternis.

Keine Frage, dass der Erwin Schulhoff der 20er Jahre sich in solche musikalischen Sphären kaum je begeben hätte. Seine vier Werke aus den Jahren 1924 bis 1927 sind grundverschieden, aber jedes auf eigene Weise kompromisslos. Es ist keine moralische Rehabilitation, sondern musikalisch zwingende Wiederentdeckung, wenn diese Werke des NS-verfolgten, 1942 im Internierungslager Wülzburg zu Tode gekommenen Komponisten gespielt werden. Vor einigen Wochen waren im Konzerthaus Lieder und Streichquartette von Schulhoff zu hören.

Wenn man Schulhoffs Duo für Violine und Violoncello (1925) hört, fragt man sich, warum diese Besetzung nicht viel populärer ist. Dialogischer als dieses Janáček gewidmete Werk kann Musik nicht sein: Der Geiger Sokolov und der Cellist Jens Peter Maintz streichen sich die Bälle zu, dass der Funke sofort aufs Publikum überspringt, ein Sammelsurium von Streicherglück, in dem das flageolettselige Cello reichlich Daumeneinsatz verlangt.

Die 2. Sonate für Violine und Klavier (Brovtsyn und Nebolsin) klingt demgegenüber etwas schrubbiger, der Geigenpart erinnert an Hindemiths Motto: Tonschönheit ist Nebensache. Packend ist das Andante mit schweren Streicherseufzern über dunklen Glockenschlägen des Klaviers. Vor allem aber fasziniert die einheitliche Wirkung dieser Sonate, die aus einer kleinen, in vielen Gestalten auftauchenden Figur aus drei Tönen resultiert. Und es erstaunt, wie unbeirrt der ganz unneoklassizistisch klingende Schulhoff an klassischen Formmodellen festhielt – ähnlich wie in dem ebenfalls viersätzigen Streichsextett op. 45, in dem der Bratscher Philip Dukes die Besetzung komplettiert. Im ersten Satz schießt die Zwölftonskala in den Himmel; später insistiert die erste Geige (Brovtsyn) auf einem Vier-Ton-Motiv, dass es fast an den späten Schostakowitsch erinnert. In den folgenden Sätzen gibt es zwar gelegentlichen Leerlauf, aber namentlich im zweiten und vierten Satz macht sich ein immer heftigeres Drängen zum Verstummen bemerkbar, dass es dem explosiven Kopfsatz ein packendes Pendant gegenüberstellt.

Zum Einstieg in den überreichen Abend brillierte der Pianist Eldar Nebolsin mit Schulhoffs Fünf Jazz-Etüden, die bereits im Sommer bei Spectrum zu hören waren. Diese Stücke darf man (wie alles, was europäische Komponisten in den 20er Jahren, etwa Milhaud oder Ravel, Jazz nannten) nicht mit der Klavierkunst eines Art Tatum vergleichen, es sind bis in die letzten Fasern durchkomponierte Artefakte. Nebolsin zaubert sie, mit Pflaster am linken Mittelfinger, virtuos vors Ohr des Hörers: vom nebelhaften Blues über den perlenden Tango bis zur ausgeflippten Toccata sur le Shimmy „Kitten on the Keys“. Schulhoff ist tatsächlich unerschöpflich.

Eine Aufzeichnung des Konzerts wird am Dienstag, den 5. Januar, auf Deutschlandradio Kultur gesendet. Die Schulhoff-Stücke erscheinen im September auf CD.

Die nächsten Spectrum-Konzerte gibt es am 27. April und 13. Mai.

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12. Juni 2015 – Glühend: Bartók, Schulhoff, Korngold und Enescu bei Spectrum Concerts

Es sollten mehr Oktette gespielt werden, findet der Konzertgänger. Oder auch Septette, Sextette, Nonette. Wenn er große Symphonien hören will, hat er in Berlin jeden Tag die Qual der Wahl; wenn es um anspruchsvolle Kammermusik in gemischten Besetzungen geht, sieht das schon anders aus. Geradezu waghalsig ist ein Programm ohne prominentes Zugpferd wie Beethoven-Septett oder Schubert-Oktett: Beim Spectrum Concert sind 80 Minuten Sextett- und Oktett-Musik eines 17- und eines 19jährigen Komponisten aus der Zeit kurz nach 1900 angekündigt – das klingt nach einer Geduldsprobe. Trotzdem geht der Konzertgänger hin; die Karten für das Konzert zum Richtfest des Stadtschlosses hat er der Kindergärtnerin seiner Tochter geschenkt.

Und siehe da, es wird keine Strapaze; ein langer Abend zwar, jedoch glückliche Überstunden.

Denn erstmal gibt es zwei markante Werke in kleinerer Besetzung: Béla Bartóks Kontraste für Klarinette, Violine und Klavier von 1938 entstanden im Auftrag von Benny Goodman, aber Jazz und Swing muss man darin mit der Lupe suchen. Auch von ungarischer oder südosteuropäischer Bauernfolklore kann nur in einem äußerst abstrakten Sinn die Rede sein. Das mittlere Stück mit dem Titel Pihenö (Ruhe) ist eine Art Nachtmusik, in der aus fast schematischem Aufbau (konsequente Gegenbewegung von Klarinette und Geige) mysteriöse Sphärenklänge entstehen. Die schnellen Rahmensätze sind sehr künstliche Volkstänze, der Verbunkos mit einem Klarinettensolo, der Sebes mit virtuosem Schrammelsolo für die Geige, die zunächst sogar auf einem „verstimmten“ Zweitinstrument spielen muss. Das Klavier steuert einige tolle Glissandi bei (mit denen der Sohn des Konzertgängers sich gerade im Klavierunterricht plagt), bis eine feurige Coda mit famosem Wetthupen das Stück krönt.

Auch die 5 Études de Jazz für Klavier des im KZ Wülzburg zu Tode gekommenen Erwin Schulhoff von 1926 wird man kaum als Jazzstücke bezeichnen können, als Etüden durchaus: ein atonaler Charleston, ein Blues wie von Eric Satie nach einer Memphis-Reise, ein Chanson, der doch nach etwas klimprigem Bar-Piano klingt, ein steifer Maschinen-Tango, schließlich eine beeindruckende Toccata sur le Shimmy ‚Kitten on the Keys‘ – vor Energie platzende Klaviermusik eines aus der Musikgeschichte Eliminierten, für dessen Wiederentdeckung sich Spectrum Concerts seit langem einsetzen, im nächsten Jahr mit einem reinen Schulhoff-Abend (3. Januar 2016).

Nach diesen beiden kantigen Werken wirkt das Streichsextett D-Dur op. 10, das Erich Wolfgang Korngold 1914 im Alter von 17 Jahren zu komponieren begann, geradezu plüschig. Auch in seinen dramatischen Phasen badet es in höchstem Wohlklang, es gibt tremolierende Verzückungen, schwere Leidensseufzer im zweiten Satz entschweben immer wieder in verklärte Regionen. Sehr hübsch der dritte Satz, ein zerpflücktes Tänzchen voll schöner Ideen, die aber doch mehr aneinandergeklebt als ausgeführt sind; wie das ganze Werk recht kleinteilig wirkt.

Featured imageDagegen hatte der Rumäne George Enescu schon als 19jähriger das Geheimnis des großen Bogens raus. Sein Streichoktett C-Dur op. 7 wirkt auch additiv, aber in meisterlichen Übergängen fließt doch eins ins andere, so dass der Hörer sich vom ersten Takt an begeistert mittreiben lässt. Der erste Satz präsentiert auf einem durchgehenden Bass-Grundschlag gefühlte 25 Themen, so dass die wohl irgendwie heraus-analysierbare Sonatenform sich von vornherein erledigt. Das erste Thema ist allerdings ein Ohrwurm, der an allen Schnittstellen wiederkehrt. Von der brahms’schen Unisono-Wucht des Beginns aus durchwandert die Musik die verschiedensten Klang- und Gefühlslandschaften. Der zweite Satz Très fougeux ist ein wahres Feuerwerk, im Lentement singen Violinen und Bratschen, schließlich das Cello im Wechsel. Das Finale ist ein überraschend komplex gebauter Walzer mit nie erlahmendem Stimmengeflecht. Man wartet die ganze Zeit darauf, dass das Stück mal einen Hänger hat; aber der Sog hält eine Dreiviertelstunde lang an. Geniestreich ist ein zu kleines Wort für dieses Feuerwerk, ein unbekanntes Meisterwerk aus dem Jahr 1900.

Die Aufzeichnung dieses Konzerts wird am Sonntag, 14.6. um 20:03 Uhr auf Deutschlandradio Kultur gesendet.

Zu Spectrum Concerts

20. Mai 2015 – Kulturwunder: Debussy, Dutilleux, Ravel und Fauré bei Spectrum Concerts

In Frankreich ist die Welt besser, nicht nur das Essen, sondern auch die Musik: Das muss man auch und gerade als Deutscher nach diesem Konzert zugeben. Man stelle sich ein vergleichbares deutsches Programm vor, statt Fauré, Debussy, Ravel, Dutilleux etwa Brahms, Pfitzner, Reger und Stockhausen – danach läge jeder Hörer erschlagen im Sessel!

Französischer Kammermusik aus 130 Jahren widmet sich das Konzert der stets aufregenden Spectrum-Reihe, und zwar keinen Evergreens, sondern durchaus sperrigen Werken. Claude Debussys En blanc et noir für 2 Klaviere ist zu Beginn des Ersten Weltkriegs entstanden, Luthers Ein feste Burg ist unser Gott tritt darin auf, verhärtet und panzert sich, wird zum Marsch und trifft auf eine leichte, lebensbejahende Marseillaise – so zumindest die Theorie. Der Konzertgänger erwartet bei einem solchen Konzept das Schlimmste, einen beklemmenden nationalen Furor, aber Debussy war offenbar selbst bei schlechtester Absicht unfähig zum musikalischen Hass. Seine kompositorische Fantasie entzündet sich am musikalischen Gegenstand, statt das feindliche Objekt zu verzerren. Blanc et noir sind bei Debussy Klaviertasten, nicht Kriegsgegner. Das Stück ist auf eine merkwürdig helle Weise unheimlich. Im zentralen zweiten Satz tritt der Lutherchoral von sehr fern und hoch heran, der Konzertgänger assoziiert kurz den Nebel am Beginn von La Valse; das Anschwellen, das Marschieren erinnert dann eher an jazzige Improvisationen als an Krieg. Stellenweise erschreckende Musik, aber niemals martialisch. Das Finale ist bezeichnenderweise ein trotz Dissonanzen helles Scherzando mit ganz abruptem Schluss.

Die Pianisten Robert Levin und Ya-Fei Chuang (im hochgeschlitzten Glitzerkleid, das dem Umblattler die Sinne verwirren muss, und High Heels, mit denen frau in Cannes in jedes Kino käme) spielen, wie man es sich von einem klavierspielenden Ehepaar erhofft, in perfekter Symbiose. Ausdrücklich um dieses Zusammenklingen geht es in Henri Dutilleux‘ Figures de Resonances von 1970, um Töne, die ihrem eigenen Nach- und Widerhall hinterherlauschen. Im Grunde genau das, was aufgeweckte Kinder, wenn die Hummeln im Hintern mal schlafen, am Klavierkörper tun könnten; noch schöner, wenn sie zwischendurch solche wilden Verzierungen in den Raum werfen können wie Chuang und Levin. Keine 10 Minuten dauern Dutilleux‘ schöne Resonanzen, ein nicht unwesentlicher Unterschied zu Stockhausens 140minütigen Natürlichen Dauern

Solche Musik ergibt von CD natürlich keinen Sinn, sondern nur im echten Raum, mit einem sehr leisen Publikum, das so diszipliniert wie dieses ist: Sogar bei Ravels Klaviertrio a-Moll klingelt ein Handy rücksichtsvoll nur zwischen den Sätzen. Wie Debussys Stück im Weltkrieg entstanden, ist hier nun nicht die geringste Spur von Gewalt zu hören. Mit seinen Schwerpunktverschiebungen im Kopfsatz und Taktwechseln im Finale entsteht ein tänzerischer, oft geradezu schwebender Klang. Begeisternd der schnelle zweite Satz Pantoum, die wie eine Art malaiischer Zigeunermusik klänge, wenn es so etwas denn gäbe. Im dritten Satz, einer langsamen Passacaille, wird die Musik zum Trip, am Schluss erklingt eine Zwiesprache von Geige und Cello, die zu schön für diese Welt ist, ehe das Klavier in tiefem Brummen versinkt. Aus hohen Tönen steigt der Finaltanz herab, das Trio mündet in einen Nebel, in dem Glück und Licht funkeln, das Bewusstsein einer besseren Welt mitten in der Katastrophe des Krieges. Das Trio spielt beeindruckend homogen, die Geigerin Marianne Thorsen sehr unprätentiös, Jens Peter Maintz mit beeindruckend langem Cello-Stachel und Ya-Fei Chuang mit sanftem, geschmeidigen Anschlag.

Klingt der Klavierpart bei Ravel weiblich, übernimmt Levin den sehr männlichen Klavierpart in Gabriel Faurés 2. Klavierquartett g-moll, das man automatisch mit Brahms‘ Klavierquartett in der gleichen Tonart vergleicht, das Schönberg schwülstig orchestriert hat. Während der Konzertgänger sich bei Brahms immer unzulänglich und unbehaglich fühlt, sich fragt, beim wievielten Gegenthema oder bei welcher Abspaltung man gerade ist, ob in der Schlussgruppe oder Durchführung, treibt er bei Fauré sofort im melodischen Strom mit, ohne sich aber gehirntot zu fühlen. Die Reprise erkennt er trotzdem, so wuchtig wird sie dem Hörer in die Ohren gedonnert. Der zweite Satz ist ein sehr kurzes, wüstes Gebilde voller in den Boden schießender Raketen und Tonleitergewitter, im Adagio pendelt und tonleitert das Klavier, während die Bratsche (Philip Dukes) das Thema aus dem Kopfsatz fortspinnt. Im Finale wird dieses Thema allmählich etwas dudelig, es ist nicht so auratisch wie Berlioz‘ idée fixe und der 3/4-Takt recht schunkelig, wenn man ihn mit den 3/3/2-Figuren oder 5/4- und 7/4-Takten bei Ravel vergleicht. Trotz eines gewissen Donnerns und Schrubbens zum Schluss sympathische Musik; man ist aber froh, dass Schönberg das nicht auch orchestriert hat.

Dass in Berlins überreicher Musiklandschaft auch solche anspruchsvollen, kaum oder gar nicht geförderten Gebilde wie Barnaby Weilers Klavierfestival und seit beeindruckenden 28 Jahren Frank S. Dodge’s Spectrum Concerts existieren, ist ein Kulturwunder. Als wäre das eigene Überleben nicht schwer genug zu sichern, engagieren sich Spectrum Concerts seit Jahren auch noch für das Musikleben im Kosovo – chapeau, sagt der Konzertgänger nach diesem französischen Abend. Es wäre übertrieben, den Kammermusiksaal als überfüllt zu bezeichnen; umso erfreulicher, dass eine Kanzlei namens Fuhrmann-Wallenfels ihre Gäste in dieses Konzert führt statt zu einer philharmonischen Schinken- und Schlachteplatte, wie risikoscheue Firmen sie sonst lieben. Hoffentlich wissen die Gäste diese Delikatessen zu schätzen!

Super, sagt jedenfalls ein Herr im Business-Anzug nach dem Konzert zu seinen Kollegen, auf bald!

Das nächste Spectrum-Konzert mit Bartók, Schulhoff, Korngold und Enescu (wo gibt es das sonst?) findet am 12. Juni statt, das Programm der nächsten Saison steht.

Spectrum Concerts

Juristen, die etwas von Musik verstehen!