Endlich: Ursula Mamlok, Ravel und Messiaen bei Spectrum

Was für unerwartete, aufregende, bewegende Anfänge in einem Ende stecken können! Als die 83jährige Komponistin Ursula Mamlok im Jahr 2006 nach dem Tod ihres Mannes von New York nach Berlin zog, war das nicht irgendein Umzug in einen Altersruhesitz. Denn Berlin war die Stadt, die die gerade 16 gewordene Ursula Lewy im Februar 1939 mit ihrer jüdischen Familie gerade so noch hatte verlassen können. Heimat mochte sie den Ort verständlicherweise nicht mehr nennen, der zur Heimstatt des Völkermords geworden war und an den sie dennoch an ihrem, noch taghellen, Lebensabend zurückkehrte. Frank Sumner Dodge aber verwendet das Wort mehrmals in seiner kurzen Begrüßung vor dem Konzert im Kammermusiksaal der Philharmonie – der amerikanische Gründer jenes seit 1988 bestehenden, hochwertvollen, unkaputtbaren Formats Spectrum Concerts, bei dem Mamlok (wie sie seit ihrer Heirat 1947 hieß) ein spätes musikalisches Zuhause fand. Heimat vielleicht. Ihr, die 2016 in Berlin starb, ist das ganze Konzert gewidmet.

Auch wenn nur wenige Minuten „echte Mamlok“ zu hören sind. Verdichtete Minuten allerdings, die musikalisch doppelt und dreifach zählen. Am Ende ihrer 2001, noch in New York entstandenen Confluences für Klarinette, Violine, Cello und Klavier steht ein gläserner, höchstens scheinbar stehender Klang, der nichts beendet, sondern Hörräume für Folgendes öffnet. Still, as if suspended, heißt dieser kurze dritte Satz. Das zuvor gehörte Stück basiert auf Kontrasten, kurze elegische Abschnitte verschwirren direkt in eilige Girlanden. Aber es ist kein Gegeneinander, sondern konzertiert, die Instrumente scheinen miteinander zu sprechen.

Und es ist eins jener Werke, die man ruhig gleich zweimal hintereinander spielen könnte (wie es Rattle einmal mit Webern und Vladimir Jurowski jüngst mit einem späten Strawinsky tat): erstens weil sich durch die Wiederholung vieles erschlösse, zweitens weil es aufgrund der Kürze locker machbar ist, drittens weil man dieses ansprechende Stück auch sehr gern doppelt hören möchte. Ruhig Mut dazu haben! Mamlok würde es verdienen, wir Hörer auch.

Stattdessen hier der erste Satz von Confluences in einer Spectrum-Aufnahme:

Eine gelinde Enttäuschung ist das folgende Trio a-Moll von Maurice Ravel von 1914, das hier aus einem etwas nebulösen Klang nicht hervortritt, unklar bleibt, nicht kristallin. Obwohl es wunderbare Abschnitte gibt, etwa in der Passacaille, wo sich gegen Ende das Cello von Torleif Thedéen wahrhaft in eine uralte Gambe zu verzaubern scheint. Und der Nebel verfliegt vollkommen in dem mit Abstand längsten Stück des Abends, Olivier Messiaens Quatuor pour la fin du temps. Hier ist die Klarinette als Vierte wieder dabei, die bei Ravel pausierte, und Thorsten Johanns ruft auf diesem Instrument die intensivsten Momente des fast einstündigen Stücks hervor: nicht nur die Vogelrufanklänge in der eröffnenden Liturgie de crystal, sondern vor allem das lange Solo im dritten der acht Stücke. Abîme des oiseaux heißt es, „Abgrund der Vögel“, und ist hier von wirklich atemloser Spannung, man zerbirst in Erwartung jedes einzelnen nächsten Tons.

Die Geschichte des Quatuor ist ungeheuerlich, es entstand im Kriegsgefangenenlager Görlitz, wohin der französische Soldat Olivier Messiaen (in der Heimat bereits ein renommierter Komponist) gebracht worden war und wo ihm der kulturaffine Wehrmachtsdolmetscher Carl-Albert Brüll das Komponieren ermöglichte. Am 15. Januar 1941 wurde es in einer Lagerbaracke uraufgeführt, Klänge aus einer anderen Welt, gewiss kaum fassbar für die Hörer und doch unendlich berührend.

Im Kammermusiksaal der Philharmonie hört man nun immer wieder und ganz leise den Herbstwind ums Dach pfeifen (oder in der Saallüftung?), was den ohnedies beträchtlichen auratischen Faktor nochmals erhöht. Gebannt hört man zu, in den beiden tranceartigen Christuslobpreisungen (louanges) ebenso wie in der Danse de la fureur, wo die vier Spieler im durchgehenden Unisono ein fremdartiges, unerhörtes Instrument entstehen lassen. Oder in der orchestralen Spreizung des Regenbogens, der in Klangfarben explodiert, und natürlich in der schlussendlichen Höhen- und Himmelfahrt von Klavier (Jacob Katsnelson) und Geige (Boris Brovtsyn), mit der das Werk schließt. Das Ende der Zeit, musikalisch erfüllt, voller Beginn. Eine faszinierende Aufführung auf höchstem Niveau.

Das nächste Spectrum-Konzert findet am 30. November statt, hochklassisch dann mit einem Quintett von Brahms und einem von Schubert (nämlich dem, das man auch das Quintett aller Quintette nennen mag).

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