Spät starten die Spectrum Concerts in die Saison, aber sie tuns, und bessere Kammermusik wird man in Berlin schwerlich finden – selbst wenn der erwartete Höhepunkt gar nicht mal das aufregendste Stück des Abends wird. Ein Nachtstück, ein Herbststück, ein Frühlingsstück im Kammermusiksaal.
Robert Helps‘ Nocturne für Streichquartett (1960) senkt sich von fern und hoch oben in den Klang hinein, wie aus dem Nichts. Und am Ende nach ein paar Minuten wieder hinaus, dann aber in der Erinnerung an nächtliche Eruption und den berückend elegischen Ton der ersten Violine (Clara-Jumi Kang). Der Amerikaner Helps (1928-2001) wird in Deutschland wenig gespielt, und wenn, dann bei Spectrum. Das Nocturne wurde auch beim allerersten Spectrum-Konzert vor auf den Tag genau 30 Jahren gespielt. Hier eine Aufnahme von 2011:
Aus unbekannten Nachtgründen gehts auf einen Gipfel im Herbst, Johannes Brahms‘ spätes Klarinettenquintett h-Moll opus 115. Zum Streichquartett tritt der Bläser Thorsten Johanns mit feinem emotionalen Ton, energisch kommunikativ und vielleicht einen Tick zu zentral. Kangs Violine wiederum schmerzvoll-schön bis an die Grenze des Kitschs, aber nie darüber hinaus. Permanente Variation ruhiger Bewegung (Habakuk Traber) gilt hier vollumfänglich, ein sehr weicher und selbstredend welliger Klang ohne allzu heftige dynamische Ausschläge, auch nicht ins Stille. Eine Interpretation von unerhörter Einheitlichkeit, alles scheint aus einem und in eins zu fließen. Wie komplex das komponiert ist, glaubt man kaum und spürt es doch.
Klingt es sehend anders als blind? Der Konzertgänger schließt wie meist nach erstem abschätzenden Blickschein die Augen, eine Bekannte aber hält sie offen und konstatiert mit dem Ohr eine gewisse Unruhe, die vom Klarinettisten ausgehe, auch gelegentliche Unsauberkeiten. Ein weiterer Blindhörer wiederum widerspricht.
Doch ob Makel oder nicht, hier wird auf einsamen Gipfeln bekrittelt.
Was kann nach letztem Brahms noch kommen? Früher Bartók. Guter Einfall, dem Spätherbst den Frühling folgen zu lassen, mit vorzeitigen heftigen Hitzeausbrüchen. Fülle und fetter Tonsatz in Béla Bartóks Klavierquintett C-Dur opus BB33 (1903) lassen auf rührend sinnige Weise an den jungen, kraftmeierischen Brahms denken. Im Habitus natürlich, nicht im Klangbild. Da begegnet einem Zigeunermoll statt den Früchten systematisch erforschter Volksmusik (die begann Bartók erst einige Jahre später), auch Debussy und gewiss vieles andere.
Nicht jede starke Geste scheint beseelt, aber alles ist voll Feuer. Mit vereinten Kräften halten die Streicher dem Klavierdonner des virtuosen Vadym Kholodenko stand, selbst wenn sie dafür ihre Instrumente durchsägen müssen. Die Musiker spielen das ohne Frühwerk-Vorbehalt: Boris Brovtsyn jetzt am ersten Pult, Kang am zweiten, Maxim Rysanov an der Bratsche, Jens Peter Maintz am Cello. Volle Pulle plus X, und dennoch, niemals entgleist der Klang ins Ohrenbetäubende, und es gibt schöne Inseln der Ruhe und des Tanzes.
Und immer noch denkt man an den alten Brahms und ist voll wohlwollender Wehmut vor diesen Wellen, in denen die Kraft strotzt. Ein Heidenspaß, kann man auch sagen, selbst wenn es einen nicht durchgehend fesselt. Am Ende kocht der Saal vor Begeisterung.
Im April und Mai gibts weitere Spectrum-Konzerte mit je einem großen Brahmswerk dabei, im Juni dann zum Abschluss eins mit Sergej Tanejew, der manchmal russischer Brahms genannt wird und jedenfalls hierzulande viel zu wenig gespielt. Und dazu so manche Rarität.
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„Permanente Variation ruhiger Bewegung“ Kommt das aus Trabers Einleitung ? Das ist klug gesagt.
Ja, so gut formuliert, das muss man abschreiben. Habakuk Trabers Einführungen sind immer lohnend, von seinem tollen Namen ganz zu schweigen.