Großes Bohei um den „Klang“ beim diesjährigen Ultraschall-Festival: Klangerkundungen aller Art, Klangfarben, Klangmischungen … Hat das wirklich mit den bösen Weltumständen zu tun, wie einige Quo-vadis-neue-Musik-Beobachter deuten, mit bewussten oder verängstigten Rückzügen oder Geschrei-opponierenden Widerstandshaltungen? Oder gehts auch eine Nummer kleiner, hats vielleicht mehr mit praktischen Gründen zu tun? Es gibt einige Ensembles mit schrägen Besetzungen, und die verteilen Kompositionsaufträge, und der Komponist muss von was leben, und wenn er für so ungewohnte Mischungen komponiert, liegt das Rumschnüffeln in den Klangmöglichkeiten nahe.
Und daran ist ja auch nix Schlechtes.
Unter anderem Saxophon, Posaune und Akkordeon tönten am Donnerstag beim Konzert von LUX:NM. Am Samstag im Radialsystem wartete dann das Ensemble Nikel mit E-Gitarre, Saxophon, Schlagzeug und Klavier auf, so einer Musikschulbesetzung, was beim Neue-Musik-Festival gleich systematische Erkundung der Grenzregion von Band und Ensemble heißt. (Dieser ubiquitäre Diskurssprech ermüdet mehr als noch so langweilige Kompositionen.) Die kompakte Aufzählung der Instrumente wird der klanglichen und auch räumlichen Entkompaktung auf der Bühne nicht ganz gerecht. Dass die Reihenfolge der angekündigten Stücke heimlich durcheinander gewürfelt wird, verstärkt den Eindruck der Zerfaserung. Wer die Einführungen zu den Stücken gelesen hat, bemerkt allmählich die Ton-Exposé-Schere; was immerhin belegt, dass im Programmheft kein reiner Humbug steht.
Enno Poppes Rocktrümmer-Erkundung Fleisch wirkt in ihrer wohligen Halblautstärke poppe-untypisch präzisionsfrei. Ann Cleares Stück mit dem schön mysteriös-konkreten Titel the square of yellow light that is your window wirkt klanglich indirekter, leicht einschläfernd, Geigenbogen auf E-Gitarre und sowas, sehr schöner Zweitongesang im Sax. In Mark Bardens Witness haben zunächst drei Mann ihre Hände überall am und im entblätterten Flügel, wie so ein sechshändiger Harvey Weinstein über einer armen Schauspielerin, eh der Klang per Sopransax in hohe Sphären springt. Schön der so sinnige wie dezente Einsatz von Elektronik. Am stärksten vielleicht Yair Klartags Fragments of Profound Boredom mit tiefen Tamtamgründen einerseits, einem Foltersurium sondergleichen andererseits: dem Saxophon in fiesen Ohrensägeregionen, Geigenbogen auf Styroporklötzchen (wie Fingernägel auf der Tafel), asynchronen Metronomen. Soll was mit Heidegger zu tun haben.
Noch vielfältiger und zugleich zurückhaltender die Klangerkundungen beim Ensemble ascolta. Auch in Márton Illés‘ Ascolta-Rajzok expandiert der Klang vom befummelten und fingerbeklöppelten Inneren des Klavierkorpus aus, aber ungeheuer raffiniert: Als Cello und Gitarre hinzutreten, klöppeln und ratschen sie zunächst ganz ähnlich – eine allmähliche Umfärbung und langsame Klangmetamorphose. Auf ganz andere Weise sticht Samir Odeh-Tamimis Ja Nári aus dem heraus, was man hier sonst so hört: Drei Bläser stehen dem Schlagzeug hart gegenüber, das sie innerhalb weniger Minuten – ja, was? Beruhigt etwa? Unterjocht? Ein unmittelbarer, aggressiver Sechsminüter.
Klangräusche mit RSB und DSO
Zwei Konzerte der Rundfunkorchester dann am Sonntag. Das RSB unter Dirigent Enno Poppe im Pierre-Boulez-Saal, der einen beängstigenden Eindruck macht: halbvoll mit Instrumenten, darüber schwebt eine riesige Damoklesleinwand. Ärgerlich gegenüber den Kartensuchern vor der Tür, wie viele leere Plätze man in dieser restlos ausverkauften Veranstaltung bemerkt.
Die Zweifel an der Saalwahl werden in Rebecca Saunders‘ Void bestärkt, das in einer Art Glockenklangrausch immer noch einen draufsetzt. Wer von Schlagwerk nicht genug kriegen kann, ist im Himmel, wer hingegen der neuen Musik mal ein Schlagwerk-Moratorium gönnen würde (wie der Klassik ein Beethoven-Moratorium), der schnappt nach Luft – zumal in diesem viel zu kleinen Raum.
Das Klavierkonzert von 2014 des vielgepriesenen Simon Steen-Andersen (wohl der Grund für die verzweifelte Kartensuche vor der Tür) ist für den Konzertgänger eine der großen Festival-Enttäuschungen. Der Auftakt ist atemberaubend: Auf der Leinwand schwebt ein Konzertflügel in Zeitlupe vom Himmel herab – und zerbirst, zum plötzlichen Orchester-Inferno. Man ist unglaublich gespannt, wie da der Pianist Nicolas Hodges noch ins Spiel kommen kann. Er tut es schließlich mit einzelnen Tönen, die die Tastatur herunterhopsen, das Orchester nimmt das Gehopse auf. Dann ploppt auf einer Laubsägewand die Projektion desselben Pianisten am geschrotteten Flügel auf, die der echte Pianist über eine zweite Tastatur nach Belieben in und außer Gang setzt. So beginnt das Hin und Her. Und das Problem. Denn dieses zunehmend ermüdende Wechselspiel trägt kein halbstündiges Klavierkonzert. Schwachtastenkasten, frei nach Beethoven.
Die Musikwissenschaft aber sagt, dieses Werk sei der Höhepunkt des Festivals gewesen. Für den Konzertgänger scheiterts allein an der großen Gretchenfrage bei neuer Musik: Würde er’s nochmal hören wollen?
Yair Klartags Con forza di gravità unbedingt! Auch in diesem Programm scheint Klartags Stück das stärkste zu sein, ein reiner Streichersound mit Abwärtssog, aufregend aufgefächert und allbeweglich und dabei hochkonzentriert und geradlinig. Wirklich toll, wie stark das RSB (das letzten Sonntag noch Rachmaninow und Sibelius spielte) auch in diesem Repertoire ist! Dieses Klartag-Stück könnten die Musiker mal einem ihrer Gastdirigenten im sinfonischen Normalbetrieb empfehlen, Klartag vor Bruckner würde funzen.
Die Klangorgien im Abschlusskonzert des DSO unter Evan Christ sind im Großen Sendesaal des rbb besser aufgehoben. Nach Nina Šenks Echo II (würde in Donaueschingen Todesurteil wegen „Filmmusik“ setzen) gibt es Bruno Mantovanis Love Songs, in denen die Flöte der Solistin Magali Mosnier erst vor dem Hintergrund der vier Orchesterflöten hervortritt und später jede Menge Tuttitumult folgt: Ohrensausen, als hätte man zu viele Liebeslieder gehört. Zu Beginn von Georg Friedrich Haas‘ Posaunenkonzert mit dem Solisten Mike Svoboda ist man zunächst verdattert, haben die Orchesterwarte sich einen Jux gemacht und Wagner auf die Pulte gelegt? Dann aber hört man klarer, das ist ja Sibelius mit Mikrotönen! Wunderschön ist das – und ein Stück, das sich gewaltig entwickelt, während in vielen anderen Stücken nur Dinge geschehen.
Schlechthin überwältigend schließlich Mark Andres woher … wohin, das Dekonstruktivismus und Heiligen Geist verbindet. Christlich inspiriert von Johannes 3, V.8 und dem zweifachen Verschwinden Christi auf Golgatha und in Emmaus, lauscht diese betörende Musik in mehreren Abschnitten dem Verschwinden der Klänge nach. Zweimal entfleuchts in Anschwellen und Orchesterexplosionen, meist aber in luftigen und geisthaften Verscheinungen. Einen Abschnitt lang rascheln die Musiker gar bloß in ihren Notenpapieren. (Was Fragen aufwirft hinsichtlich der unvermeidbaren Zukunft, in der die Orchesterstimmen vom Tablet gelesen werden dürften.)
So ein Verschwindibus ist der perfekte Abschluss für ein Festival. (Detaillierte Kritik des DSO-Gigs bei Schlatz.)
Fantastische Solo-Auftritte
Was neben Meisterwerken wie von Mark Andre oder Isabel Mundry und Vielversprechendem von Yair Klartag in Erinnerung bleibt, sind eine Reihe fantastischer Solo-Auftritte. Im oben erwähnten ascolta-Konzert beeindruckte Markus Schwinds Trompete in MACH von Eres Holz ebenso wie der Cellist Erik Borgir in Enno Poppes superpointiertem Zwölf.
Drei komplette Solo-Recitals für Streicher zogen sich als roter Faden durchs Ultraschall-Programm. Den Bratscher Christophe Desjardins im Heimathafen zu hören, verhinderte Freitagnacht leider Konzertgängers Müdigkeit. Wie am Sonntag aber die Geigerin Carolin Widmann im Boulezsaal den Mittag zur Mitternacht macht, ist ein Wintertagtraum. Widmann ist klug, schön, elegant und berühmt und könnte sich mit nur Sibeliusspielen eine goldene Nase verdienen. Steht aber bei Ultraschall und spielt hochverdichtete Bagatellen, Miniaturen und Etüden von Hans Abrahamsen, George Benjamin und Enno Poppe. Davor Pascal Dusapins In vivo, den Beweis, dass Gegenwartsmusik betörend schön sein kann, ohne in Einaudis Folterkeller zu landen. Und am Ende Salvatore Sciarrinos atem- und tagberaubenden Klassiker Sei capricci (1975/76), gefühlte 77 Anderwelten des Klangs, deren jeder 777 Neue-Musik-Festivals in der Pfeife raucht. Und schließlich noch eine Zugabe von Johann Georg Pisendel aus dem frühen 18. Jahrhundert!
Am meisten Bammel, ja Anflüge von Panik hatte der Konzertgänger, zugegeben, vor Caleb Salgados Solo im Radialsystem: Über eine Stunde Kontrabass pur im Halb- bis Fastganzdunkel, wer hält das aus inmitten von Festivalrummel, wo man manchmal dankbar ist für starke Reize und Pointen? Viele Bekannte des Konzertgängers schwänzen hasenfüßig.
Man hälts aber nicht nur aus, sondern erlebt einen Höhepunkt dieses Ultraschalljahres. Brian Ferneyhoughs trittico von 1989 ist so komplex, dass man null kapiert – das aber so dicht, dass es sowas von mitreißt (ein Hummelflug in die New Complexity, fiel der mutigen und klugen Sitznachbarin des Konzertgängers ein). Helmut Lachenmanns Pression von 1969 ist ein Klassiker, den Salgado vom Cello auf den Kontrabass übertragen hat. Kaum fragt man sich, ob dieses forscherische Fingerstreichen übers Bogenholz und Herumstreichen auf Bürzel und Steißbein des Instruments nicht eher von historischem Interesse sein könnte, da tönt schon von sonstwo ein Klang, von dem man nie zu träumen wagte. Wie ein uferloser Traum schließlich Pierluigi Billones fast 40minütiges UTU AN-KI LU (1995, überarbeitet 2016). Als Schüler Lachenmanns, der die Spieltechniken des Lehrers noch einmal drastisch radikalisiert habe, wird Billone im Programmheft angedroht: was stimmt und doch in die Irre führt. Billone kehrt großteils auf die Saiten des Kontrabasses zurück, kreist dort, macht den Bogen schräg … und nimmt sich in ungeheurer Langsamkeit Zeit, in der Beziehungen entstehen, Begegnungen und emotionale Berührung, wie man sie kaum erwartet hat. Unvergesslich diese Klänge wie von nächtlichen Tieren, die tief im Instrument leben.
Mehr Ausdruck der Empfindung als Kritik: Ziemlich starker Ultraschall-Jahrgang. Was das mit den Weltumständen zu tun hat, keine Ahnung.
Personally I dislike Ferneyhough’s (and other modernist composer’s) pretentious unfounded alien-styled inhumane chaotic pseudo-random material, which exists only for it’s own sake and creates sensory responses that are not of the composer’s intention, but just happen to occur.
Make no mistake: Ferneyhough is no real composer; and the fact that this has never been accordingly stated or criticized shows the times in which we live: Feed the people any rubbish, with just a hint of added intellectual superiority and they’ll believe it and worship your ‘message’.
… Ferneyhough… the charlatan king of pretentious wishful implication
Gibt es eigentlich Ihren Radioauftritt zum Nachhören?
Ich hoffe doch nicht.
Bewährte Konzertgänger-Qualität vom ersten bis zum letzten Satz. Unterschiede in der Beurteilung bei Ja Nári Samir von Odeh-Tamimi und trittico von Brian Ferneyhough beleben das Geschäft.