Wiederschiedsfreudicht: Spectrum im Kammermusiksaal

Freudige Wiederkehr, …

Zu den besonders lieben Kulturbekanntschaften, um die der Konzertgänger sich während der Konzert-Prohibition entsprechende besonders schwere Sorgen machte, gehört die seit 33 Jahren existierende Kammermusik-Reihe Spectrum Concerts. Denn die gehört mit ihrem speziellen Profil (maximales Niveau, minimale Subvention) seit jeher zu den Risikopatienten des Konzertbetriebs. Einerseits klassische Kammermusik des 18. und 19. Jahrhunderts, andererseits kaum je zu hörende Komponisten des 20. wie Ernst Toch, Robert Helps oder Ursula Mamlok werden gespielt, getragen von einer treuen Unterstützerschar. Zum Comeback gehts mit Brahms und nochmal Brahms erstmal quasi ins Herz aller Kammermusik.

Und zwar im Saal, der ebenso heißt, obwohl er ja ziemlich groß ist: der Kleine Große Saal der Philharmonie. Im pandemiebedingten Schachbrettmuster besetzt sieht er gleich doppelt so voll aus wie sonst. Man entdeckt viele vertraute Gesichter und trifft auch einen lieben Bekannten in Johannes Brahms‘ sonnenstrahlendem 1. Streichquintett F-Dur opus 88 aus dem Jahr 1882: Diesen zweiten Satz da, den kennt man doch? Aber ja, es ist ein kleines frühes Klavierstück, die erste von zwei Sarabanden von 1855, irgendwann in irgendeinem Klavierunterricht begegnet.

Doch wie’s so ist, wie hat sich dieser Bekannte verändert, als man ihn nach langer Zeit wiedertrifft! Der schon recht alte Brahms hat das Klavierstück des jungen im Streichquintett-Satz natürlich ganz woandershin gewuppt, und noch dazu als Teil eines Formexperiments, indem in diesem zweiten Satz zwei Sätze (langsamer und Scherzo) ineinander verschachtelt sind. Was die betagte Schachtel Brahms da mal ausprobiert hat, ganz verzückend!

Das Zusammenspiel der fünf Streicher ist erfahrungs- wie erwartungsgemäß außerordentlich. Die Geigerin Clara-Jumi Kang hat den vielleicht etwas volleren, ihr Kollege Boris Brovtsyn den noch feinsinnigeren Klang, obwohl die Staturen genau das Gegenteil erwarten ließen, die Bratsche von Gareth Lubbe ist viel größer als die von Maxim Rysanov, dazu kommt der Cellist Jens Peter Maintz. Vom Wiedersehensglück des F-Dur-Quintetts geht es freudicht gleich in die Abschiedsstimmung des zweiten, G-Dur, Opus 111 (endlich mal ein konkurrenzfähiges Opus 111!), 1890. Die Geigen- und Bratschenpaare haben die Plätze getauscht, und der Kopfsatz des G-Dur-Quintetts tönt erstmal, als begänne hier Brahms‘ fünfte Sinfonie (mit Straußwalzer-Einlage im Seitenthema). Die Wehmut, die dann in den 111er Mittelsätzen entsteht, flog einen zwar ein wenig schon im zweiten Bratschenthema des 88er Kopfs an. Aber im gedimmten Licht von Adagio und Allegretto 111 fällt dem Konzertgänger sehr nachhaltig ein, dass die Tage ja übrigens schon wieder kürzer werden und außerdem (ach ja) für jeden von uns jeden Tag einer weniger.

… wehseliger Abschied

Aber kein Grund, in Trüb- & Brütsal zu verfallen. Lieber jeden Tag paprizieren, wie es das preschtänzerische Finale tut. Wie so einiges in diesem G-Dur-Quintett ist es von einer Ungaristik, die viel sympathischer ist als der homohassende Ungustl Orbánvictor, der in diesen Tagen den Ruf des herrlichen Magyarország versaubeuteln darf. (Aber wie tüchtig spielte vor zwei Tagen die respektable und liebreizende ungarische Nationalmannschaft!)

Risikopatient Spectrum? Die Gefährdetsten sind oft die Hartnäckigsten, dem potenten Bullen bleibt überraschend das Herz stehen, während das silberne Einhorn statt auszusterben weitergaloppiert. Wiederhören macht Freude, im nächsten Konzert am 23. September gibts zum Äquinoktium neben Ravel und Messiaen ein Werk von Ursula Mamlok, die man bis zu ihrem Tod 2016 oft bei den Spectrum Concerts im Kammermusiksaal sah.

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