Ungewöhnlich: Konzerthausorchester, Venzago, Tabea Zimmermann spielen Michael Jarrell und Schumann

Nichts lieben die Kinder des Konzertgängers an der täglichen LOGO-Sendung mehr als den täglichen Tag des/der soundso: des Eichhörnchens, der Mundhygiene, des Glücks. Sehr passend also das Freitagsprogramm des Konzerthausorchesters zum Tag der ungewöhnlichen Instrumente. Denn was ist schon eine Flammenorgel, ein Trautonium, eine Glasharfe im Vergleich zu einer … Bratsche?

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13.5.2016 – (Im)perfect: Bratschenmusik mit Mozart, Brahms, Ligeti, Benjamin

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Freitag der 13. im Zeichen der Bratsche: Fünf Werke in wechselnden Besetzungen, in denen The imperfect instrument (so der Titel des Abends) ganz unterschiedliche Rollen spielt, stehen bei den immer an- und aufregenden Spectrum Concerts im Kammermusiksaal auf dem Programm.

Herrlich gebratscht und sehr sympathisch moderiert (ungeschwätzig, manchmal etwas allgemein) wird das Konzert von der amerikanischen Violistin Jennifer Stumm – hier zu sehen in einem Bratschenvortrag von 2011:

Zwei Werke von Mozart und Brahms beweisen, dass ein Quintett mehr ist als ein Quartett mit einer Bratsche zu viel. Wolfgang Amadeus Mozarts Streichquintett Nr. 4 g-Moll KV 516 (1787, parallel zu Don Giovanni komponiert) prägt die Viola nicht nur durch Kleinigkeiten wie die eindringlichen Schleiferfiguren im Adagio ma non troppo, sondern grundlegend durch die Verstärkung der mittleren, menschlichen Stimmlage. Denn die menschliche Stimmung ist hier sehr fahl: Im Kopfsatz hängt das Seitenthema im selben g-Moll wie das erste Thema, eine betrübliche Atmosphäre, die sich in zackigen Akzenten im Menuett und in der überlangen Adagio-Einleitung des Finales noch schmerzlicher ausbreitet; selbst wo der Übergang nach G-Dur gelingt, bleibt sie spürbar. Ideal austariert ist der Gemeinschaftsklang der fünf Musiker, geführt vom Primarius Boris Brovtsyn mit herrlich leuchtendem Geigenton.

Noch wunderbarer gelingt dem Ensemble Johannes Brahms‘ 2. Streichquintett G-Dur op. 111 (1890), ein überreiches Spätwerk, das von gewichtiger Brahmsstrenge bis zu Johann-Strauß-Grüßen im Seitensatz alles enthält, was des Brahmsfreunds Herz begehrt. Und des Bratschenfreunds: Hier tritt sie viel aus- und eindrücklicher hervor, im Variationen-Adagio lässt Stumm ihr Instrument anrührend singen. Aus dem doch überschaubaren Publikum sind danach mehr Bravorufe zu hören als nach manch rappelvollem Philharmonikerkonzert. (Angesichts offenbar teils kläglicher Leistungen bei einem anderweitigen Brahmszyklus mit Starbesetzung ist der Brahmsfreund gut beraten, sich den 30.3.2017 bei Spectrum Concerts vorzumerken.)

Zuvor stand die Bratsche bei drei anderen Werken noch mehr im Rampenlicht. In György Ligetis becircender Sonate Hora Lunga sogar als Solistin: ein seelenvoller Gesang ausschließlich auf der C-Saite voll falscher Töne. Die natürlich gar nicht falsch sind, sondern Ligetis fantastischer Spekulation entspringen, die Bratsche hätte eine um eine Quinte tiefere, real nicht vorhandene F-Saite, und deren 5., 7. und 11. Oberton wären dann die im temperierten System ‚falsch‘ klingenden Naturtöne. Da die F-Saite imaginär ist, bitte ich den Bratschenspieler, die Intonationsabweichungen bewusst zu greifen. Was Jennifer Stumm umwerfend gelingt, ein Stück von traumhaft präziser Schrägheit, dessen Flötentöne sich schließlich in höchste Höhen pfeifen, um sich ins Oberton-Nirvana aufzulösen.

In den schönen Zwei Gesängen op. 91 von Johannes Brahms geht die Viola eine naheliegende, doch nicht immer gelingende Verbindung mit einer Altstimme (Renata Pokupić) ein. Das Geistliche Wiegenlied mit der Melodie des Weihnachtsliedes Joseph, lieber Joseph mein komponierte Brahms 1863 zur Hochzeit von Joseph Joachim und Amalie Schneeweiß, die Gestillte Sehnsucht 1884 zur Verhinderung von deren Scheidung. Wenn selbst dieses schöne Lied die Ehe der Widmungsträger nicht retten konnte, dürfte nicht mehr viel zu kitten gewesen sein. Auch im Lied umarmt die Bratsche am Ende eher sich selbst als die Frauenstimme.

Der 1960 geborene George Benjamin lässt hingegen die Bratsche ihresgleichen heiraten: Sein phänomenales Viola, Viola für zwei Violen (1997) durchschreitet musikalische Welten vom fernsten Sphärenton bis zu einem hochkomplexen Stimmen- und Tongeflecht, das doch unmöglich nur zwei Bratschen hervorbringen können… Jennifer Stumm und ihr Partner Lars Anders Tomter übertreffen sich selbst. Und das inspirierende Programm dieses Konzerts schenkt dem Hörer die verblüffende Einsicht, wie auffällig die weitläufige Spannung von Benjamins Klangwelten der ganz anders tönenden Weite von Brahms G-Dur-Quintett ähnelt. Wenn das nichts ist!

Nächstes Spectrum Concert am 17. Juni, mit den Goldberg-Variationen… für Streichtrio!

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3.3.2016 – Stürmisch: Nils Mönkemeyer & Barock Solisten spielen Telemann, Bach & Bach

Schwerelosigkeit ist Schwerstarbeit: Im Andante klingt die Solo-Bratsche so durchsichtig, ja ätherisch, dass Nils Mönkemeyer nach dem Satz erstmal durchatmen und sich den Schweiß von der Stirn wischen muss. Carl Philipp Emanuel Bachs Konzert a-Moll Wq 170 ist als Cellokonzert komponiert, die Modulation zum Bratschenkonzert funktioniert aber bestens. Einen gewissen Verlust an Durchschlagskraft des Instruments gegenüber Streichern und Continuo macht der fremdelnd singende Ton der Viola wett, der auf den Konzertgänger so mysteriös wirkt wie der androgyne Altschlüssel, in dem sie notiert wird. Die gläserne Kadenz im ersten Satz ist der auffälligste von einigen faszinierend bizarren Momenten in diesem Stück, das mit seiner Überfülle an plakativen Kontrasten den typischen CPE-Bach-Sound hat, das Gegenteil von barocker Affekt-Einheit.

Der Bratschist Mönkemeyer, mit Beatlesfrisur und lustig schwingender lila Krawatte, ist der Stargast der Berliner Barock Solisten, der Pop-up-Alte-Musik-Combo mit Philharmonikerglanz, an diesem Abend unter sachkundiger Führung von Gottfried von der Goltz vom Freiburger Barockorchester. Trotz harter Konkurrenz durch Mariss Jansons im Vorderhaus und Joyce di Donato (der Sängerin mit herrlicher Stimme und entsetzlichen Fotos) in der Deutschen Oper ist der Kammermusiksaal nicht gänzlich verwaist. Das Gerüst des Programms bilden Stücke von Georg Philipp Telemann. In dessen Konzert G-Dur TWV 51:G9 brilliert die Bratsche ohne den Verfremdungseffekt des CPE-Bach-Konzerts. Man erfährt, dass Mönkemeyer dieses meistgespielte Bratschenkonzert (ist das so?) schon so oft aufgeführt hat, dass er die Kollegen (vergeblich) um ein anderes Stück gebeten habe; trotzdem hat er die Noten auf dem Ständer, schaut allerdings kaum hinein; von Routine dennoch nichts zu hören. Ohne Solobratsche gibt es noch das elegante Konzert für vier Violinen A-Dur TWV 54:A1 und, am Anfang des Programms, die umwerfende ‚Ouverture des nations anciens et modernes‘ G-Dur TWV 55:G4, in der die alten Deutschen, Schweden und Dänen eingängig bis behäbig tanzen, die jungen dagegen rhythmisch vertrackt bis stampfend – von den Barock Solisten so druckvoll gespielt, dass die Löcher aus dem Käse fliegen. Und am Ende jammern les vieilles femmes. Da stimmt man Telemanns eigenem Urteil zu, dass er Tanzsuiten (noch) besser könne als Concerti.

Den Höhepunkt des Abends bildet aber Wilhelm Friedemann Bach, der Desperado der Familie. Während der Hörer auf CPE Bachs wohlkalkulierte Überraschungen, sein Markenzeichen, stets gefasst ist, wirft einen die Musik des ältesten Bachsohns in ihrer merkwürdigen Zerrissenheit um. Mag sein, dass diesem Genie nicht nur das Marketing-Talent des Bruders, sondern auch der innere Kompass des Vaters gefehlt hat. Die Streichersuite g-Moll galt früher als Werk von Johann Sebastian Bach und wird als BWV 1070 geführt, Wilhelm Friedemann soll ja auch, so wird gemunkelt, aus Geldnot Vaterwerke gefälscht haben. Aber wenn man das Stück hört, hat man keinen Zweifel an der Autorschaft – und zwar nicht aufgrund gewisser Floskeln und Wendungen des Empfindsamen Stils (so das Programmheft), sondern wegen ihrer charakteristischen Verbindung von Zerrissenheit und Wärme.

Pritzelhaft, kleinlich, unfruchtbar nannte Zelter Jahrzehnte später in einem Brief an Goethe Wilhelm Friedemann Bach; schöner als in diesem Tadel kann man ihn nicht loben: Als Komponist hatte er den tic douloureux, original zu sein.

Es gibt einen lesenswerten ZEIT-Artikel von Volker Hagedorn über den Sonderling unter den Bachs.

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5.10.2015 – Wild: Namjoong Kim spielt Brahms, Hindemith und Bowen im Kammermusiksaal

Tonschönheit ist Nebensache, gebietet Paul Hindemith im 4. Satz seiner Solo-Sonate dem Bratschisten: Rasendes Zeitmaß. Wild. Wenn ein alter Europäer junge Asiaten hört, dann muss der Musiker stets auch gegen das Vorurteil anspielen: absolute technische Perfektion auf Kosten des individuellen Ausdruckswillens. So stehen die jungen Musikerinnen, die auf Initiative des Vereins New York City Artists in den kommenden Monaten fünfmal im Kammermusiksaal der Philharmonie spielen, vor keiner leichten Aufgabe.

Fast ist man erleichtert, bei der südkoreanischen Bratschistin Namjoong Kim schon in Johannes Brahms‘ ursprünglich für Klavier und Violine komponiertem Scherzo aus der F.A.E.-Sonate einige intonatorische Rauheiten zu hören, die nur zum Teil dem Charakter der Viola zuzuschreiben sind. Angemessen ungebärdig spielen Namjoong Kim und Zheeyoung Moon am Klavier diesen kraftmeierischen frühen Brahms, dritter Satz eines Gemeinschaftswerks mit Robert Schumann und dem vergessenen Albert Dietrich. (Man liest oft von dieser Sonate, bekommt sie aber leider nie im Ganzen zu hören.) Auch optisch sind die beiden ein eindrucksvolles Gespann. Die eher zurückhaltende Moon vermeidet es, vom Steinway aus die Bratsche zu übertönen, und tritt das Pedal mit Schuhen, mit denen sie kaum Autofahren dürfte. Kim schließt beim Spiel oft die Augen, platzt aber auch heraus und stampft bisweilen mit dem Fuß, dass man zusammenzuckt.

Die Klangschönheit kommt dann in Brahms‘ später dreisätziger Sonate Es-Dur op. 120,2 zu ihrem Recht. Man kennt sie als Klarinettensonate, Brahms selbst gab sie wegen des Mangels an guten Bläsern auch für Bratsche heraus, und in dieser Form hört man ein ganz anderes Werk: mit einem amabile, das nie weichgespült klingt, einem schroffen appassionato und geschmeidigen Zweiunddreißigstel-Ketten im grazioso des Variationenfinales. Sehr guter Brahms, lernt der alte Europäer. Und die jungen Asiaten lernen ebenfalls: dass auch in Berlin, dem Mekka der klassischen Musik, die Hörer zwischen den Sätzen klatschen.

Was bei Brahms kaum stört, aber bei Paul Hindemiths Sonate für Bratsche Solo op. 25, 1 (1922) schon ziemlich lästig ist, eine Art Händehusten. Kim lässt sich davon nicht beirren und zeigt die ganze Palette ihres Könnens und ihres Instruments, im Sehr langsam etwa die schwebend-sphärischen Flageolettklänge, die die Tochter des Konzertgängers im Geigenunterricht Flötentöne und Zaubertöne nennt. Im Rasend fetzen die Haare vom Bogen. In der spröden Schönheit des Passacaglia-Finales, definitiv einem Höhepunkt der überschaubaren Viola-Literatur, erreicht das Konzert seine Klimax.

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Die Fantasie für Bratsche und Klavier F-Dur (1918) des in Deutschland völlig unbekannten englischen Komponisten York Bowen (1884-1961) passt dazu wie die Faust aufs Auge: gepflegt elegische Musik mit großem Soßenfinale, bedenkenlos zusammengeschustert, aber stets schön anzuhören – und, obwohl der lange elegische Strich vorherrscht, mit einer großen spieltechnischen Bandbreite für die Bratschistin. Ein gelungener Auftritt, der den alten Europäer erfreut und ein wenig beschämt.

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