Turbulenzromantisch

Iván Fischer im Konzerthaus, Petrenko und Oramo bei den Berliner Philharmonikern: Entdeckungsreisen von Sinigaglia bis Langgaard

Drei hochinteressante Programme, reich an Unbekanntem: Iván Fischer ist zwar formal bloß der Ex, aber irgendwie doch der Chefdirigent der Herzen am Konzerthaus, jeder seiner Besuche ein Hochlicht. Boss Kirill Petrenko gab bei den Berliner Philharmonikern letzte Woche das vielleicht wichtigste Konzert der Saison. Und dieser Tage dirigierte Sakari Oramo ebendort ganz Seltsames: ein unverschämtes Werk, das alle hundert Jahre gespielt wird.

Foto: Steven Mathey CC BY-SA 4.0
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Kurz und kryptisch* (7): RSB, Jurowski, Hope spielen Firssowa, Berg, Tschaikowsky

Heute ist Totensonntag, sagt Daniel Hope seine Zugabe an. Das Andante aus Erwin Schulhoffs Violinsonate von 1927 ist aber nicht nur hörenswert, weil der Komponist 1942 den Nazis zum Opfer fiel. Sondern auch, weil es einfach packende Violinmusik ist. Und natürlich auch aufgrund von Schulhoffs Nähe zu Alban Berg, dessen weltabschiedliches Violinkonzert Hope zuvor gespielt hat. Da klangen seine ersten „leeren“ Töne fast, als würde er gleich Fritz Kreisler spielen; aber dann wirft er sich mit Haut und Haar in diese Musik, ohne irgendwas zu glätten oder oberflächlich zu schwülsten.

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3.1.2016 – Zwingend: Erwin Schulhoff und Schostakowitsch bei Spectrum Concerts

Mögen andere Berufstätige gemächlich ins neue Jahr schlurfen – diese Musiker legen mit 250 Prozent los: Beim ersten Termin 2016 der Spectrum Concerts, der hochgelobten, stets gefährdeten, ewig jungen  Kammermusikreihe, die bald 30 Jahre alt wird, gibt es nicht nur vier Werke des deutsch-böhmisch-jüdischen Komponisten Erwin Schulhoff, die bereits ein Konzert füllen würden. Im zweiten Programmteil erklingt im Kammermusiksaal der Philharmonie zudem das stalinpreisgekrönte Klavierquintett g-Moll op. 57 von Dimitri Schostakowitsch aus dem Jahr 1940.

Prokofjew mäkelte zwar, in Schostakowitschs Quintett sei jeder Ton kalkuliert. In keinem Takt geht Schostakowitsch ein Risiko ein. Wenige Jahre, nachdem Schostakowitsch wegen westlicher Dekadenz in die Schusslinie der Prawda geraten war, wäre das ja auch verständlich gewesen. Aber das Quintett ist, trotz äußerlicher Brillanz und einer gewissen Glätte, durchaus abgründig und zwiespältig. Es beginnt mit Präludium und Fuge, und im Unterschied zu Bach ist bei Schostakowitsch die Fuge klangschöner und emotionaler. Das Brodeln unter ihrer gedämpften, verschatteten Oberfläche springt den Hörer an und bleibt auch bei den drei eingängig scheinenden Sätzen präsent, die noch folgen: einem Scherzo mit Chatschaturjanklingeln, einem Intermezzo, in dem der Hörer sich ständig fragt, aus welchem herzzerreißenden Film er diese Musik bloß kennt, und einem Finale, das über elegische Felder hinweg beschwingt bis triumphal klingt. Die Musiker Boris Brovtsyn, Valeriy Sokolov, Maxim Rysanov, Torleif Thedéen und Eldar Nebolsin spielen das Stück mit ausdauernder Brillanz – schöner Ton aus tiefster Finsternis.

Keine Frage, dass der Erwin Schulhoff der 20er Jahre sich in solche musikalischen Sphären kaum je begeben hätte. Seine vier Werke aus den Jahren 1924 bis 1927 sind grundverschieden, aber jedes auf eigene Weise kompromisslos. Es ist keine moralische Rehabilitation, sondern musikalisch zwingende Wiederentdeckung, wenn diese Werke des NS-verfolgten, 1942 im Internierungslager Wülzburg zu Tode gekommenen Komponisten gespielt werden. Vor einigen Wochen waren im Konzerthaus Lieder und Streichquartette von Schulhoff zu hören.

Wenn man Schulhoffs Duo für Violine und Violoncello (1925) hört, fragt man sich, warum diese Besetzung nicht viel populärer ist. Dialogischer als dieses Janáček gewidmete Werk kann Musik nicht sein: Der Geiger Sokolov und der Cellist Jens Peter Maintz streichen sich die Bälle zu, dass der Funke sofort aufs Publikum überspringt, ein Sammelsurium von Streicherglück, in dem das flageolettselige Cello reichlich Daumeneinsatz verlangt.

Die 2. Sonate für Violine und Klavier (Brovtsyn und Nebolsin) klingt demgegenüber etwas schrubbiger, der Geigenpart erinnert an Hindemiths Motto: Tonschönheit ist Nebensache. Packend ist das Andante mit schweren Streicherseufzern über dunklen Glockenschlägen des Klaviers. Vor allem aber fasziniert die einheitliche Wirkung dieser Sonate, die aus einer kleinen, in vielen Gestalten auftauchenden Figur aus drei Tönen resultiert. Und es erstaunt, wie unbeirrt der ganz unneoklassizistisch klingende Schulhoff an klassischen Formmodellen festhielt – ähnlich wie in dem ebenfalls viersätzigen Streichsextett op. 45, in dem der Bratscher Philip Dukes die Besetzung komplettiert. Im ersten Satz schießt die Zwölftonskala in den Himmel; später insistiert die erste Geige (Brovtsyn) auf einem Vier-Ton-Motiv, dass es fast an den späten Schostakowitsch erinnert. In den folgenden Sätzen gibt es zwar gelegentlichen Leerlauf, aber namentlich im zweiten und vierten Satz macht sich ein immer heftigeres Drängen zum Verstummen bemerkbar, dass es dem explosiven Kopfsatz ein packendes Pendant gegenüberstellt.

Zum Einstieg in den überreichen Abend brillierte der Pianist Eldar Nebolsin mit Schulhoffs Fünf Jazz-Etüden, die bereits im Sommer bei Spectrum zu hören waren. Diese Stücke darf man (wie alles, was europäische Komponisten in den 20er Jahren, etwa Milhaud oder Ravel, Jazz nannten) nicht mit der Klavierkunst eines Art Tatum vergleichen, es sind bis in die letzten Fasern durchkomponierte Artefakte. Nebolsin zaubert sie, mit Pflaster am linken Mittelfinger, virtuos vors Ohr des Hörers: vom nebelhaften Blues über den perlenden Tango bis zur ausgeflippten Toccata sur le Shimmy „Kitten on the Keys“. Schulhoff ist tatsächlich unerschöpflich.

Eine Aufzeichnung des Konzerts wird am Dienstag, den 5. Januar, auf Deutschlandradio Kultur gesendet. Die Schulhoff-Stücke erscheinen im September auf CD.

Die nächsten Spectrum-Konzerte gibt es am 27. April und 13. Mai.

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1.11.2015 – Wiederentdeckt: Lieder und Streichquartette von Erwin Schulhoff

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Ein Förderverein zur Wiederentdeckung NS-verfolgter Komponisten und ihrer Werke hätte sein Ziel erreicht, wenn er überflüssig geworden ist. Davon ist musica reanimata zwar noch weit entfernt. Aber die Musik des 1894 geborenen avantgardistischen Tausendsassas Erwin Schulhoff, der 1942 im Internierungslager Wülzburg zu Tode kam, taucht im klassischen Konzertleben öfter auf. Schulhoffs vielseitiges Werk ist jedoch erst zum Teil erschlossen, und so ist es ein guter Einfall, das Jubiläumskonzert zum 25jährigen Bestehen des Vereins diesem (wieder) bekannt gewordenen Künstler zu widmen, zugleich bei dieser Gelegenheit unbekannte Schulhoffwerke vorzustellen.

Unbekannt sind Schulhoffs Lieder, über die Gottfried Eberle eben ein Buch veröffentlicht hat. 16 Lieder werden im Werner-Otto-Saal des Konzerthauses vorgetragen, davon 7 als Uraufführungen. Von den Zigeunerliedern des 16jährigen über Vier Lieder auf Texte von Hans Steiger, in denen der 19jährige Schulhoff Abschied von der Tonalität nimmt, bis zu den faszinierenden Fünf Gesängen mit Klavier von 1919 auf schwer menschheitsdämmernde Texte voll expressionistischer Substantivierungen spannt sich der Bogen. Offenkundig hat Schulhoff sich schon in seiner frühen Zeit ständig neu erfunden. Die Qualität ist naturgemäß unterschiedlich, es sind aber Juwelen darunter wie die neu entdeckte zauberhafte Miniatur Lass mich an deinem stillen Auge oder der mysteriös schwebende Gesang Langsam wandle ich dahin.

Der Bariton Hans Christoph Begemann singt sehr solide, bewältigt auch zuverlässig Schulhoffs im Lauf der Jahre zunehmende Falsettvorliebe. Oft scheint der Klavierpart (Klaus Simon, der die Lieder auch bei Schott ediert) interessanter als die Singstimme. Im Zigeunerlied Rings ist der Wald wiederholt sich ständig ein einziges rhythmisches Modell von fast schubertscher Einfachheit. In Nun versank der Abend taucht der Klaviersatz in skrjabinhafte Nebelsphären ab.

Vergleichsweise etabliert ist Schulhoffs Kammermusik, aus der zwei spannende Werke gespielt wurden: In den 5 Stücken für Streichquartett „à Darius Milhaud“ von 1923 gibt es einen atonalen Walzer mit rhythmischem Versteckspiel, eine Serenade mit  sphärischen Flageolettklängen, Tango und Tarantella und Kunstfloklore alla czeka. Das Kleequartett, vier junge Japanerinnen, spielt das sehr akkurat, aber vielleicht nicht ganz adäquat, ohne jede Schroffheit; das Feuer der 20er Jahre im allgemeinen und Schulhoffs im besonderen lodert so nur auf Sparflamme. Zu artig, sagt die japanische Freundin des Konzertgängers, die öfter ins Konzert geht als er, vielleicht ist das unser Charakter. Wer weiß. Aber ein Tarantelstich würde diesen technisch brillanten Musikerinnen guttun.

Nichts zu kritteln gibt es beim unbestrittenen Meisterwerk des Abends, Schulhoffs 1. Streichquartett von 1924, das das Repertoire jedes Quartetts bereichert (hier kann man reinhören und mitlesen). Alles ist da, das Funkensprühen im Presto con fuoco, die groteske Melancholie im sensationellen zweiten Satz mit seinen Flageolettwogen, slowakische Folklore im Allegro giocoso. Der langsame Satz steht hier sehr effektvoll am Schluss, Andante molto sostenuto, ein jenseitiges Finale, das seinesgleichen sucht.

Die nächsten Konzerte von musica reanimata am 24. und 25. November beschäftigen sich mit Artur Schnabel als Komponist und Interpret.

Zur Startseite von hundert11 – Konzertgänger in Berlin

12. Juni 2015 – Glühend: Bartók, Schulhoff, Korngold und Enescu bei Spectrum Concerts

Es sollten mehr Oktette gespielt werden, findet der Konzertgänger. Oder auch Septette, Sextette, Nonette. Wenn er große Symphonien hören will, hat er in Berlin jeden Tag die Qual der Wahl; wenn es um anspruchsvolle Kammermusik in gemischten Besetzungen geht, sieht das schon anders aus. Geradezu waghalsig ist ein Programm ohne prominentes Zugpferd wie Beethoven-Septett oder Schubert-Oktett: Beim Spectrum Concert sind 80 Minuten Sextett- und Oktett-Musik eines 17- und eines 19jährigen Komponisten aus der Zeit kurz nach 1900 angekündigt – das klingt nach einer Geduldsprobe. Trotzdem geht der Konzertgänger hin; die Karten für das Konzert zum Richtfest des Stadtschlosses hat er der Kindergärtnerin seiner Tochter geschenkt.

Und siehe da, es wird keine Strapaze; ein langer Abend zwar, jedoch glückliche Überstunden.

Denn erstmal gibt es zwei markante Werke in kleinerer Besetzung: Béla Bartóks Kontraste für Klarinette, Violine und Klavier von 1938 entstanden im Auftrag von Benny Goodman, aber Jazz und Swing muss man darin mit der Lupe suchen. Auch von ungarischer oder südosteuropäischer Bauernfolklore kann nur in einem äußerst abstrakten Sinn die Rede sein. Das mittlere Stück mit dem Titel Pihenö (Ruhe) ist eine Art Nachtmusik, in der aus fast schematischem Aufbau (konsequente Gegenbewegung von Klarinette und Geige) mysteriöse Sphärenklänge entstehen. Die schnellen Rahmensätze sind sehr künstliche Volkstänze, der Verbunkos mit einem Klarinettensolo, der Sebes mit virtuosem Schrammelsolo für die Geige, die zunächst sogar auf einem „verstimmten“ Zweitinstrument spielen muss. Das Klavier steuert einige tolle Glissandi bei (mit denen der Sohn des Konzertgängers sich gerade im Klavierunterricht plagt), bis eine feurige Coda mit famosem Wetthupen das Stück krönt.

Auch die 5 Études de Jazz für Klavier des im KZ Wülzburg zu Tode gekommenen Erwin Schulhoff von 1926 wird man kaum als Jazzstücke bezeichnen können, als Etüden durchaus: ein atonaler Charleston, ein Blues wie von Eric Satie nach einer Memphis-Reise, ein Chanson, der doch nach etwas klimprigem Bar-Piano klingt, ein steifer Maschinen-Tango, schließlich eine beeindruckende Toccata sur le Shimmy ‚Kitten on the Keys‘ – vor Energie platzende Klaviermusik eines aus der Musikgeschichte Eliminierten, für dessen Wiederentdeckung sich Spectrum Concerts seit langem einsetzen, im nächsten Jahr mit einem reinen Schulhoff-Abend (3. Januar 2016).

Nach diesen beiden kantigen Werken wirkt das Streichsextett D-Dur op. 10, das Erich Wolfgang Korngold 1914 im Alter von 17 Jahren zu komponieren begann, geradezu plüschig. Auch in seinen dramatischen Phasen badet es in höchstem Wohlklang, es gibt tremolierende Verzückungen, schwere Leidensseufzer im zweiten Satz entschweben immer wieder in verklärte Regionen. Sehr hübsch der dritte Satz, ein zerpflücktes Tänzchen voll schöner Ideen, die aber doch mehr aneinandergeklebt als ausgeführt sind; wie das ganze Werk recht kleinteilig wirkt.

Featured imageDagegen hatte der Rumäne George Enescu schon als 19jähriger das Geheimnis des großen Bogens raus. Sein Streichoktett C-Dur op. 7 wirkt auch additiv, aber in meisterlichen Übergängen fließt doch eins ins andere, so dass der Hörer sich vom ersten Takt an begeistert mittreiben lässt. Der erste Satz präsentiert auf einem durchgehenden Bass-Grundschlag gefühlte 25 Themen, so dass die wohl irgendwie heraus-analysierbare Sonatenform sich von vornherein erledigt. Das erste Thema ist allerdings ein Ohrwurm, der an allen Schnittstellen wiederkehrt. Von der brahms’schen Unisono-Wucht des Beginns aus durchwandert die Musik die verschiedensten Klang- und Gefühlslandschaften. Der zweite Satz Très fougeux ist ein wahres Feuerwerk, im Lentement singen Violinen und Bratschen, schließlich das Cello im Wechsel. Das Finale ist ein überraschend komplex gebauter Walzer mit nie erlahmendem Stimmengeflecht. Man wartet die ganze Zeit darauf, dass das Stück mal einen Hänger hat; aber der Sog hält eine Dreiviertelstunde lang an. Geniestreich ist ein zu kleines Wort für dieses Feuerwerk, ein unbekanntes Meisterwerk aus dem Jahr 1900.

Die Aufzeichnung dieses Konzerts wird am Sonntag, 14.6. um 20:03 Uhr auf Deutschlandradio Kultur gesendet.

Zu Spectrum Concerts