Rotierend, schneidend: Mandelring Quartett spielt Brahms‘ Quintette und Sextette

e0180dbf5e83d76ed19b4b3b116e3641Was hatte Johannes Brahms eigentlich mit diesem albernen Symphonik-Ideal? Was er da noch zusetzen wollte, fragt man sich, wenn man seine Streichquintette und Sextette rotieren hört, die das Mandelring Quartett am zweiten Tag seines Brahms-Marathons im Radialsystem spielt.

Draußen bumpert die 1.-Mai-Vergnügung, diese eigenartige Kreuzhainer Loveparade. Ab und an dringen Polizei- oder Feuerwehrsirenen in die alte Abwasserpumpmaschinenhalle, die jetzt ein Konzertraum ist. Und zwar ein sehr schöner. Das Radialsystem nervt zwar bei jedem Besuch: überall Gedrängel – beim endlosen Warten auf einen Kaffee, am Einlass, beim Kampf um die besten der unnummerierten Plätze. Zwei ältere Damen stehen dicht vor einer Keilerei, weil die eine mehrere Plätze mit einem Seidenschal geblockt hat; die andere schwingt ihre Faust mit der alten Revolutionärs-Parole Freie Platzwahl! Weiterlesen

Sternspritzend: 5 Streichquartette im Konzerthaus

Scheme_of_things1475Wagner ist für Weicheier, Harteier gehen zum Streichquartett-Fest ins Berliner Konzerthaus. Acht Stunden dauert das. Gut, ein paar Pausen sind dabei, aber zwischen den Pausen: starker Tobak, kein Haydn oder Mozart, kein Ravel, sondern zweimal Spätes von Beethoven, dreimal Letztes von Schubert. Alles im Rahmen der Alfred-Brendel-Hommage.

Mag man in der Großen Fuge auch mal einen Hänger haben: Wenn man so viel Streichquartett hört, kommen einem Beethovens Klavierkonzerte, die hier ebenfalls zyklisch aufgeführt werden, wie der reine Kuddelmuddel vor. Weiterlesen

13.5.2016 – (Im)perfect: Bratschenmusik mit Mozart, Brahms, Ligeti, Benjamin

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Freitag der 13. im Zeichen der Bratsche: Fünf Werke in wechselnden Besetzungen, in denen The imperfect instrument (so der Titel des Abends) ganz unterschiedliche Rollen spielt, stehen bei den immer an- und aufregenden Spectrum Concerts im Kammermusiksaal auf dem Programm.

Herrlich gebratscht und sehr sympathisch moderiert (ungeschwätzig, manchmal etwas allgemein) wird das Konzert von der amerikanischen Violistin Jennifer Stumm – hier zu sehen in einem Bratschenvortrag von 2011:

Zwei Werke von Mozart und Brahms beweisen, dass ein Quintett mehr ist als ein Quartett mit einer Bratsche zu viel. Wolfgang Amadeus Mozarts Streichquintett Nr. 4 g-Moll KV 516 (1787, parallel zu Don Giovanni komponiert) prägt die Viola nicht nur durch Kleinigkeiten wie die eindringlichen Schleiferfiguren im Adagio ma non troppo, sondern grundlegend durch die Verstärkung der mittleren, menschlichen Stimmlage. Denn die menschliche Stimmung ist hier sehr fahl: Im Kopfsatz hängt das Seitenthema im selben g-Moll wie das erste Thema, eine betrübliche Atmosphäre, die sich in zackigen Akzenten im Menuett und in der überlangen Adagio-Einleitung des Finales noch schmerzlicher ausbreitet; selbst wo der Übergang nach G-Dur gelingt, bleibt sie spürbar. Ideal austariert ist der Gemeinschaftsklang der fünf Musiker, geführt vom Primarius Boris Brovtsyn mit herrlich leuchtendem Geigenton.

Noch wunderbarer gelingt dem Ensemble Johannes Brahms‘ 2. Streichquintett G-Dur op. 111 (1890), ein überreiches Spätwerk, das von gewichtiger Brahmsstrenge bis zu Johann-Strauß-Grüßen im Seitensatz alles enthält, was des Brahmsfreunds Herz begehrt. Und des Bratschenfreunds: Hier tritt sie viel aus- und eindrücklicher hervor, im Variationen-Adagio lässt Stumm ihr Instrument anrührend singen. Aus dem doch überschaubaren Publikum sind danach mehr Bravorufe zu hören als nach manch rappelvollem Philharmonikerkonzert. (Angesichts offenbar teils kläglicher Leistungen bei einem anderweitigen Brahmszyklus mit Starbesetzung ist der Brahmsfreund gut beraten, sich den 30.3.2017 bei Spectrum Concerts vorzumerken.)

Zuvor stand die Bratsche bei drei anderen Werken noch mehr im Rampenlicht. In György Ligetis becircender Sonate Hora Lunga sogar als Solistin: ein seelenvoller Gesang ausschließlich auf der C-Saite voll falscher Töne. Die natürlich gar nicht falsch sind, sondern Ligetis fantastischer Spekulation entspringen, die Bratsche hätte eine um eine Quinte tiefere, real nicht vorhandene F-Saite, und deren 5., 7. und 11. Oberton wären dann die im temperierten System ‚falsch‘ klingenden Naturtöne. Da die F-Saite imaginär ist, bitte ich den Bratschenspieler, die Intonationsabweichungen bewusst zu greifen. Was Jennifer Stumm umwerfend gelingt, ein Stück von traumhaft präziser Schrägheit, dessen Flötentöne sich schließlich in höchste Höhen pfeifen, um sich ins Oberton-Nirvana aufzulösen.

In den schönen Zwei Gesängen op. 91 von Johannes Brahms geht die Viola eine naheliegende, doch nicht immer gelingende Verbindung mit einer Altstimme (Renata Pokupić) ein. Das Geistliche Wiegenlied mit der Melodie des Weihnachtsliedes Joseph, lieber Joseph mein komponierte Brahms 1863 zur Hochzeit von Joseph Joachim und Amalie Schneeweiß, die Gestillte Sehnsucht 1884 zur Verhinderung von deren Scheidung. Wenn selbst dieses schöne Lied die Ehe der Widmungsträger nicht retten konnte, dürfte nicht mehr viel zu kitten gewesen sein. Auch im Lied umarmt die Bratsche am Ende eher sich selbst als die Frauenstimme.

Der 1960 geborene George Benjamin lässt hingegen die Bratsche ihresgleichen heiraten: Sein phänomenales Viola, Viola für zwei Violen (1997) durchschreitet musikalische Welten vom fernsten Sphärenton bis zu einem hochkomplexen Stimmen- und Tongeflecht, das doch unmöglich nur zwei Bratschen hervorbringen können… Jennifer Stumm und ihr Partner Lars Anders Tomter übertreffen sich selbst. Und das inspirierende Programm dieses Konzerts schenkt dem Hörer die verblüffende Einsicht, wie auffällig die weitläufige Spannung von Benjamins Klangwelten der ganz anders tönenden Weite von Brahms G-Dur-Quintett ähnelt. Wenn das nichts ist!

Nächstes Spectrum Concert am 17. Juni, mit den Goldberg-Variationen… für Streichtrio!

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13.11.2015 – Agogisch: Mandelring-Quartett wird Mendelssohn-Quintett

Featured imageIron Man auf Hawaii? 144-Stunden-Rave im Berghain? Für Weicheier. Wer wirklich hart ist, geht zur Felix-Mendelssohn-Bartholdy-Challenge des Mandelring Quartetts. Bevor am Samstag sämtliche Streichquartette erklingen, gibt es am Freitag als Horsd’œuvre zwei Streichquintette: Der ausscheidende Bratscher Roland Glassl und sein Nachfolger Andreas Willwohl spielen gemeinsam mit. Erwartungsvolle Stimmung im Radialsystem, auch zähe Entschlossenheit: Wirklich sechs Streichquartette morgen? fragt ein Mann. Nein, antwortet sein Begleiter, sieben. Ein Junge im Grundschulalter trinkt in der Pause fritz-kola (der Konzertgänger, wiewohl im besten Mannesalter, würde das mit Schlaflosigkeit bis zum Morgengrauen bezahlen).

Mendelssohns spätes 2. Streichquintett B-Dur op.87 (1845), das nach der Pause gespielt wird, erinnert mit seinem unwiderstehlichen Tremolo-Beginn an das Violinkonzert. Jeder einzelne Mandelringianer, denkt man, könnte gut als Solist dieses großen Konzerts brillieren (nun gut, außer dem Cellisten). Dass ein Quartett bzw Quintett mehr ist als die Summe seiner Teile, beweist das vollendete Zusammenspiel, das seinen Höhepunkt im Adagio e lento erreicht: das Gegenteil klassizistischer Glätte, ein aufwühlender Trauergesang, schmerzhaft ausdrucksvoll gespielt mit fahlen Bratschen-Doppelgriff-Einwürfen, dann wieder in weiche Dur-Passagen sich erhebend. Das Finale spielen die fünf so intensiv, dass es alles andere als leichtgewichtig klingt, wie Mendelssohn selbst es empfand.

Vor der Pause gab es das frühe 1. Streichquartett A-Dur op. 18 (1826), das Werk eines 17jährigen, hochbegabt ist kein Ausdruck dafür. Das aufsteigende Thema ist so hübsch, dass man es sich seine zahllosen Wiederholungen gern anhört, zumal wenn sie so tranlos gespielt werden wie hier. Origineller als die Rahmensätze sind die beiden Mittelsätze, das Intermezzo und das rasante Scherzo, ohne Altklugheit fugiert und vom Mandelring Quintett superpräzise und perfekt abgestuft gespielt. Spätestens im 4. Satz bedauert der Konzertgänger, dass seine Kinder nicht dabei sind, er würde ihnen gern zurufen: Höre, Tochter, dies ist ein schöner Strich! Höre, Sohn, dies ist Agogik!

Was klingt schöner als eine Bratsche? fragt der neue Mandelringianer Andreas Willwohl im Pausengespräch und gibt selbst die Antwort: Zwei Bratschen.

Samstagabend also: Sieben Streichquartette.

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