Was hatte Johannes Brahms eigentlich mit diesem albernen Symphonik-Ideal? Was er da noch zusetzen wollte, fragt man sich, wenn man seine Streichquintette und Sextette rotieren hört, die das Mandelring Quartett am zweiten Tag seines Brahms-Marathons im Radialsystem spielt.
Draußen bumpert die 1.-Mai-Vergnügung, diese eigenartige Kreuzhainer Loveparade. Ab und an dringen Polizei- oder Feuerwehrsirenen in die alte Abwasserpumpmaschinenhalle, die jetzt ein Konzertraum ist. Und zwar ein sehr schöner. Das Radialsystem nervt zwar bei jedem Besuch: überall Gedrängel – beim endlosen Warten auf einen Kaffee, am Einlass, beim Kampf um die besten der unnummerierten Plätze. Zwei ältere Damen stehen dicht vor einer Keilerei, weil die eine mehrere Plätze mit einem Seidenschal geblockt hat; die andere schwingt ihre Faust mit der alten Revolutionärs-Parole Freie Platzwahl!
Aber wenn man sitzt, am besten in Reihe 3 oder 4, hat man einen zwar nicht transparenten, dafür vollen und warmen Klang. Die dicken Vorhänge vor den alten Backsteinwänden wirken Wunder.
Der manchmal ungehobelte Mandelring-Stil, zumal in den Quintetten F-Dur op. 88 und G-Dur op. 111 (mit dem ehemaligen Mitglied Roland Glassl als zweitem Bratschisten), polarisiert durchaus. Nichts für Feinschlifffanatiker und Intonationspuristen, offenbar auch für den einen oder die andere Musikerkollegin nicht: Eine Bekannte des Konzertgängers, professionelle Bratschistin, flüchtet in der Pause wegen Unsauberkeiten und fehlender Proben; der pure Krampf sei das ja. Berechtigte Kritik, nur eine Frage des Klangideals oder gar déformation professionnelle?
Denn das ist doch in seiner Unpoliertheit ein mitreißender Brahms, der zuckt, schneidet und röchelt – also lebt. Beim direkt ans und ins Herz gehenden Opus 111 fragt man sich, warum der späte Brahms eigentlich als spröde gilt. Herrlich, wie der volle Orchestersound sich ins sotto voce transzendiert. Und man bewundert, wie angesichts der orchestralen Wucht der höheren Stimmen der Cellist Bernhard Schmid gegenhält. Optisches Forte der Violinen hilft ihm dabei: ein schöner Begriff, den man im Pausengespräch von der Geigerin Nanette Schmidt lernt.
Noch überzeugender (und auch intensiver geprobt?) gelingt der Tanz auf dem Grat zwischen Wärme und Schärfe in den beiden, soeben auch auf CD erschienenen Streichsextetten B-Dur op. 18 und G-Dur op. 36. Als zweiter, tieferer Cellist ist Wolfgang Emanuel Schmidt dabei, der mit seinem Part fast unterfordert scheint. Man bedauert das an den wenigen Stellen, an denen er hervortreten darf. Völlig unverstellt wirkt, was Brahms da komponiert hat. Gerade im letzten Satz von Opus 36 gibt es Stellen, über die Brahms, hätte er sie so gehört, selbst erschrocken wäre: Wie ungeheuerlich seelennackt das ist, wenn es nicht in schönem Klang ersäuft.
Das kleine, aber feine Publikum ist enthusiastisch. So beglückt das Mandelring Quartett zwar nicht die kritische Bratschistin, aber doch die anderen: den wissenden Knuselpriem, der mit gequetschter Stimme dem Konzertgänger etwas vorsinniert über Brahms‘ Harmonik, Mittelstimmen und die Quinten im zweiten Sextett, ebenso wie den Kreuzhainer Kammermusik-Hedonisten, der sich lieber von Brahms‘ fettem, manchmal auch schneidend scharfem Sound wegpusten lässt als vom Gebumper des 1.-Mai-Ballermanns.
Ist der Knuselpriem eigentlich der Onkel vom Nieselpriem? Ansonsten zur kritischen Bratschistin: Die Brahms-Quintette und Sextette leiden schon immer unter mangelnder Probenarbeit, ist die Besetzung doch längst nicht so heikel wie Streichquartett und fast jeder adoleszente Instrumentalist in spe hat diese Werke zum ersten Mal mehr oder weniger alkoholisiert weit nach Mitternacht auf einer beliebigen Musikfreizeit vom Blatt gespielt. „Boah, das war soooo geil – wir waren soooo gut…“ Irgendwie bleibt das hängen und selbst in der- und gerade oft dort – intergalaktischen Spitzenklasse gibt es daher mit diesen Werken leider reichlich al fresco Kost….
Das ist natürlich ein Erfahrungshintergrund, der mir als Nichtstreicher fehlt. Danke.
Der Knuselpriem ist ein entfernter Verwandter des Nieselpriems, aber angenehmer.