Weiblichwa(a)gend: Kleine Bilanz des Ultraschall-Festivals

Drei beeindruckende Frauen prägen den Abschluss dieses Festivals: Simone Young dirigiert das Deutsche Symphonie-Orchester, die Solistin Séverine Ballon spielt das betörend schöne, auf ganz eigene Weise kommunikative Cellokonzert Guardian der Komponistin Chaya Czernowin. In doppeltem Sinn traumhafte Musik, über die Czernowin selbst schreibt: Manchmal wächst der Celloklang, bis er das Orchester in sich aufzunehmen scheint, wie ein vergrößerter Resonanzkörper. Dann wieder träumt das Orchester, ein Cello  zu sein oder eine einzelne Saite oder das Ende des Bogens. Aber nicht nur dieses letzte Werk, sondern das ganze Ultraschall-Festival für neue Musik 2019 ist eine erfreulich weibliche Angelegenheit. Weiterlesen

Rotierend, schneidend: Mandelring Quartett spielt Brahms‘ Quintette und Sextette

e0180dbf5e83d76ed19b4b3b116e3641Was hatte Johannes Brahms eigentlich mit diesem albernen Symphonik-Ideal? Was er da noch zusetzen wollte, fragt man sich, wenn man seine Streichquintette und Sextette rotieren hört, die das Mandelring Quartett am zweiten Tag seines Brahms-Marathons im Radialsystem spielt.

Draußen bumpert die 1.-Mai-Vergnügung, diese eigenartige Kreuzhainer Loveparade. Ab und an dringen Polizei- oder Feuerwehrsirenen in die alte Abwasserpumpmaschinenhalle, die jetzt ein Konzertraum ist. Und zwar ein sehr schöner. Das Radialsystem nervt zwar bei jedem Besuch: überall Gedrängel – beim endlosen Warten auf einen Kaffee, am Einlass, beim Kampf um die besten der unnummerierten Plätze. Zwei ältere Damen stehen dicht vor einer Keilerei, weil die eine mehrere Plätze mit einem Seidenschal geblockt hat; die andere schwingt ihre Faust mit der alten Revolutionärs-Parole Freie Platzwahl! Weiterlesen

5.11.2016 – Kindhomerisch: „Odysseus“ im Radialsystem

head_odysseus_mar_sperlongaEine trojanische Flüchtlingswelle erreicht auf der Mittelmeerroute Ithaka, woraufhin Odysseus in See sticht, um eine Insel für die unerwünschten Flüchtlinge zu finden: so die Ausgangssituation in der Oper für Familien und Kinder, die die Taschenoper Lübeck und die lautten compagney Berlin im Radialsystem aufführen. Eine etwas holprige Aktualisierung, zumal das Schicksal der Flüchtlinge in Margrit Dürrs Libretto dann weiter keine Rolle spielt und die Läuterung des xenophoben Odysseus ziemlich vage gerät. Aber den nonchalanten Umgang mit antiken Vorlagen kann man sich als echt barock ja gefallen lassen. Weiterlesen

29.10.2016 – Ulimbisch: AMEO und Musiker aus Malawi im Radialsystem

And now for something completely different. In für seinesgleichen enigmatische Klänge wie Jazz, Elektronik oder „Weltmusik“ wagt der Konzertgänger sich leichter, wenn sie sich auf einer Bühne ereignen, von der er schon stundenlang Streichquartette hat tönen hören. Etwa im Kammermusiksaal (wo leider die schöne Reihe Unterwegs mit Roger Willemsen gestorben ist) oder im Radialsystem.

Beim Berliner Andromeda Mega Express Orchestra gibt es alle diese Stile auf einmal. Inklusive Streichquartett, denn der musikalische Kosmos dieses ungewöhnlichen 18köpfigen Avantgarde-Electro-Freejazz-u.v.m.-Ensembles scheint keine Grenzen zu kennen. Sehr schlüssig darum das Projekt What Boundaries?!, in dem das von Daniel Glatzel geleitete AMEO auf Musiker aus Malawi trifft.

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14.5.2016 – Schall und Rauch: „Sono un fumo“ im Radialsystem

370px-Cesare_Gennari_-_Una_SibillaMan sehnt sich nach dem ersten Ton wie nach einer sehnsüchtig erwarteten Liebe: Die Geigerin Anaïs Chen setzt den Barockbogen an, aber nicht auf, bewegt ihn dicht über den Darmsaiten durch die Luft, biegt, dreht und windet sich – die Musik ist zum Streichen nah, aber sie kommt nicht, ein veritabler Stringtease. Das ist mal die Inszenierung eines Einsatzes! Ähnlich am Ende, wenn der Countertenor Flavio Ferri-Benedetti wieder und wieder anschnauft, ehe das bravouröse Basso-Continuo-Ensemble Il Profondo endlich einsetzt.

Dazwischen zeitigt die Szene, die die deutsch-französische Musiktheatercompagnie La Cage im Radialsystem  gestaltet, auch gewisse Längen. SONO UN FUMO ist ein wunderbarer Titel für frühbarocke Wahnsinnsarien und Instrumentalmusik, aber der bürokratische Zusatz Slapstickartige Performance mit Musik und Objekten (charmant wie die geflügelte Jahresendfigur) weist schon auf eine gewisse Umständlichkeit des inszenatorischen Ansatzes von Aliénor Dauchez hin. Der Untertitel ist mehr als ein sprachlicher Kollateralschaden des ewigen Exposé- und Förderungsantragschreibens: Die eher aphoristische Pyrotechnik (vom Sohn des Konzertgängers wie die Hirschwurst im Radialsystem sehr goutiert) ist zwar recht hübsch, aber sich wiederholende schale Scherze wie staksender Storchengang oder debiles Grinsen wirken mau, zumal angesichts der unvermeidlichen großspurigen Bataille- und Foucault-Zitate im Programmheft. Dass tänzerische Bewegungen hier ziemlich eckig fließen, fällt unter dem Dach von Sasha Waltz natürlich auf. Vor allem aber bleiben die Beziehungen zwischen den verliebt sein sollenden Musikern konturlos, und die über die Bühne verteilten Objekte entwickeln kaum Eigenleben, sondern werden der Reihe nach heruntergespult. Slapstick ist leicht behauptet, aber schwer vollbracht.

Cesare_Gennari_OrfeoEinige starke Momente finden sich aber doch im zerfaserten Ganzen: Wenn etwa die am Himmel hängende Geige langsam herabkreist und Anaïs Chen von einer hohen Leiter vergeblich nach ihr greift, ist das ebenso eindringlich wie das Schicksal der anderen Geigerin Eva Saladin, die sich, während sie Giovanni Meallis Sonata quinta, La Clemente (Innsbruck 1660) spielt, von Chen mit Cellophan umwickelt wird, als wehrlose Beute des Spinners Amor.

Überhaupt ist der Abend musikalisch viel überzeugender: Lauter Schätze aus der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, von anonymen Verrücktheitsarien und Monteverdis Voglio di vita uscir über Arien von Bartolomeo Barbarino, Bernedetto Ferrari und der Männerfantasien rotieren lassenden Venezianerin Bernardo_Strozzi_001Barbara Strozzi (L’Eraclite amoroso) bis zu den Violinsonaten von Philipp Friedrich Böddecker und Mealli. Die neu komponierten Zwischenmusiken von Caspar Johann Walter auf zweifellos historisch wohlinformiert gegeneinander „verstimmten“ Instrumenten hinterlassen dagegen beim ersten Hören eher zwiespältige Eindrücke, die Klangergebnisse klingen zwar teils faszinierend fremdartig, manchmal aber auch beliebig, die mikrotonalen Funken sprühen nicht jederzeit. Sie haben es auch nicht immer leicht als Hintergrundmusik sich ziehender Szenen.

Wie fundiert hier musikalisch gearbeitet wurde, zeigt nicht nur ein Blick in die konkrete, gleichwohl sympathisch knappe historische Erläuterung des Ensemble-Leiters und Cembalisten Johannes Keller. Es ist vor allem zu hören: Flavio Ferri-Benedetti ist ein agiler, ausgewogener Countertenor mit wunderbarem Piano, in einzelnen Momenten aber auch sehr geradlinig expressiv; auch darstellerisch stark, in seiner kurzen Hose wirkt er auf der Bühne herzzerreißend allein. Das Ensemble Il Profondo hinterlässt insgesamt einen sehr guten Eindruck: In jeder Hinsicht, musikalisch wie darstellerisch, herausragend ist die zitternde, zagende, sich verzehrende dunkelhaarige Geigerin Anaïs Chen, umwerfend in der grandiosen Böddecker-Sonate. Auch die blonde Geigerin Eva Saladin überzeugt durchweg. Die Gambistin Amélie Chemin und der Lautenspieler Josías Rodríguez Gándara (sehr lustig als Theorbenprotz) runden die starke Leistung des Ensembles ab. Sein Leiter Johannes Keller beweist nicht nur auf dem Cembalo flinke Finger, sondern auch indem er den gesungenen Text (und die deutsche Übersetzung!) zum Mitlesen in den Laptop tippt.

Insgesamt ein sehr sympathischer Abend, musikalisch hervorragend, szenisch ausbaufähig und -wert.

Noch am 15. und 16.5. im Radialsystem, danach in Basel.

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24.1.2016 – Pianoforteverklärend: Ultraschall, letzter Tag

Schwachstarktastenkasten – dieser Name, den Beethoven für das innovative Pianoforte vorschlug, passt zum Programm, mit dem der Pianist Christoph Grund den letzten Tag des ULTRASCHALL-Festivals für neue Musik eröffnet. Es folgen noch ein Geigenrecital von Barbara Lüneburg und das Abschlusskonzert des Deutschen Symphonie-Orchesters.

Zwei Klaviersonaten der St. Petersburgerin Galina Ustwolskaja (1919-2006), die erst seit dem Ende der Sowjetunion allmählich bekannt wird, rahmen Christoph Grunds Recital im Radialsystem. Oft werden an Ustwolskajas Klaviermusik die x-fachen Fortissimi und extremen klanglichen Härten betont, die im Dienst einer sehr individuellen Spiritualität stehen. Doch an der Klaviersonate Nr. 5 (1986) fallen nicht nur die heftigen Cluster auf, sondern ebenso das lange Nachlauschen und die häufigen Paarungen sehr hoher und sehr tiefer Töne, wie in Beethovens Spätwerk – nur der Anschlag ist völlig anders: Harte Gnade manifestiert sich in dieser Musik. In der 6. Sonate (1988) gibt es ein solches Nachlauschen hingegen nur in einem kurzen Piano-Intermezzo kurz vor Schluss. Ansonsten walzt die Musik, von Grund mit vollem Unterarmeinsatz auf die Tastatur geschmettert, heftig über den Hörer hinweg. Erstaunlich aber, wie der ebenso feinnervige wie athletische Grund die Walze umstandslos anhält, um die Noten umzublättern; und danach weiterzuwalzen.

Leise, aber keineswegs an der Grenze zum Unhörbaren, wie gern geschrieben wird, komponiert Mark Andre, Komponist der Wunderzaichen, für Ultraschallverhältnisse geradezu eine Berühmtheit. Magische elektronische Klänge steigen in S3 direkt aus dem Flügelkorpus auf, ausgehend von Aufnahmen, die André in Istanbul gemacht hat. So wie es in der deutschen Literatur immer Romgedichte geben wird, so lange die Villa Massimo ihre Stipendien vergibt, so bringen die DAAD- und sonstigen Komponistenstipendien alle möglichen Stadtgeräusche in die Musik; etwa auch die Unterwasserrecordings von Karen Power.

Überaus dankbar hört man Andrés kontemplativ, ja spirituell sirrende Klänge. Man muss beim Hören die Augen schließen, um verklärt zu werden – und es funktioniert, der Konzertgänger hat die Ewigkeit erblickt. Wie sie aussah, weiß er danach nicht mehr; aber sie klang wunderschön.

Rummeliger geht es in Franck Bedrossians The edges are no longer parallel zu: Der ganzkörperverkabelte Pianist darf am, auf, ums und im Klavier all das machen, was man als Kind gern getan hätte, aber wegen der Nachbarn nicht durfte. Man hätte den Eltern sagen müssen: Ich will das Opertonspektrum analysieren und ein Meta-Klavier erzeugen. Ein grandioses Spektakel, aber auch kleinteilig, weil der finger- und handflächenfertige Pianist immer an einer anderen Stelle einen neuen Prozess in Gang setzen muss. – Zum Konzert

Zugang verpasst…

In Barbara Lüneburgs Solo-Recital gibt es eine Bildershow mit sehr schönen Fotos von Eisstrukturen, arktischen Landschaften und Schiffsbugen, interessante Sätze über Identität/identity aus Forschungsprojekten in sozialen Netzwerken sowie interessante Glazialklänge aus dem Lautsprecher. Der Konzertgänger fragt sich nur, wer die sympathische Frau ist, die da am Rand der Bühne steht und ein wenig auf der Geige herumstreicht. Aber man hat schon langweiligere Urlaubsdias gesehen.

Die junge Ultraschall-Reporterin hat in diesem Recital mehr gehört. – Zum Konzert

…und ein gelungener Ausstieg

Zum Abschluss des diesjährigen Ultraschall-Festivals tritt wieder das Deutsche Symphonie-Orchester auf, das auch das durchwachsene Eröffnungskonzert gespielt hat. Für Simone Young ist kurzfristig der Dirigent Franck Ollu eingesprungen. Im Großen Sendesaal im Haus des Rundfunks sitzt der Konzertgänger neben einem zufällig hereingeschneiten alten Herrn ohne Neue-Musik-Affinität, der hier vor 50 Jahren Ferenc Fricsay gehört hat und sich erinnert, wie weiland Karl Richter Bruckners Vierte verhunzte.

Liza Lims Pearl, Ochre, Hair String hat einen frohmachenden vollen symphonischen Sound, einen sehr spezifischen Ton, der wellenförmig durch das Orchester ritscht und ratscht, ausgehend vom Cello, das Mischa Meyer mit einem Bogen streicht, bei dem das Haar außenrum gewickelt ist. In Blau, See von Robert HP Platz deckt der Titel mehr Assoziationen zu, als dass er sie öffnete – trotzdem ist es ein fesselndes Oboenkonzert. Der Solist (François Leleux) musiziert gemeinsam mit dem Englischhorn auf der Empore, nach und nach treten weitere Instrumente hinzu. Bis die Große Trommel dreinfährt und das Stück zwar nicht abmurkst, aber in ständiger Wiederholung niederschmettert, so dass die Musik nur im Not-Modus weiterglimmt. In dem aber immer noch ein wunderbares Zwiespiel von Oboe und Tuba möglich ist. – Schön auch die eigens von Platz komponierte Zugabe, in der die Oboe scheherazadeerlesen auf einem Liege- oder besser Schwebeton von Flöten, Klarinetten, Hörnern und Trompeten singt. Leleux macht das vom Festival ermüdete Auditorium eindringlich auf die Qualität dieser Musik aufmerksam – so dass es sich doch noch zum rauschenden Applaus durchringt.

Das war ja Musik, murmelt der Fricsay-Veteran.

Zum Abschluss FLUCHT. Sechs Passagen von Peter Ruzicka, Vorgeschmack auf eine entstehende Walter-Benjamin-Oper: makellos theatralische Musik, die das Ausdrucksrad nicht gerade neu erfindet. Es gibt 6 klar unterscheidbare Abschnitte, jeder auf seine Weise gehetzt. Das klingt mitunter etwas routiniert, aber gut; und nach 5 Tagen neuer Musik mögen auch die Ohren des Konzertgängers erschöpft sein. – Zum Konzert

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23.1. – Zimbelstimmig: Schlagzeugwunder und polnische Avantgarde bei Ultraschall

Das Thema Zeit macht sich immer gut auf einem Festival – vor allem wenn es für manchen Zuhörer bereits das vierte Konzert des Tages ist und er schon das eine oder andere Glas Wein getrunken hat. Dann verräumlicht die Zeit sich ganz von allein, kompositorische Struktur hin, Dynamik her. Aber für den Konzertgänger ist das Solo-Recital des Schlagzeugers Matthias Engler vom deutsch-isländischen Ensemble Adapter im Radialsystem erst das zweite Konzert am Samstag, und er hat zuvor nur Kaffee getrunken – trotzdem kommt er in diesen 50 Minuten dem Musil’schen anderen Zustand ganz nah.

Engler präsentiert keine Schlagzeug-Wundertüte, sondern eher kleine Aufbauten, dafür umso stärkere Kompositionen. The Cartography of Time des Isländers David Brynjar Franzson, in dem es angeblich irgendwie um Zeitvorstellungen von Augustinus und Wittgenstein geht, ist ein ultra-reduziertes Werk: nur ein einzelnes Becken, das mit einem Bogen gestrichen wird, wobei der Percussionist seine Finger auf dem Blech versetzt. Dazu zimbeln live-elektronische Klänge (Matthias Erb) durch den Raum; was genau was ist, bleibt oft unklar. Dafür setzt es in Iannis Xenakis‘ Psappha (1975) heftige Schläge – ein Klassiker mit wenigen, doch umso heftigeren Kontrasten, avanciert und archaisch zugleich. Man meint, gleich den falsettierenden Orest zur Blutrache schreiten zu sehen; dabei ist der Titel Psappha eine archaische Form des Namens Sappho. In Hannes Seidls Die Illusion zu erzeugen, dass die Zeit dynamisch und bedeutsam vergeht (2006), nun wieder mit Live-Elektronik, dominiert dann das Klingelnde, Schrille, Kettenklappernde und hochfrequentes Fiepsen. Aber es grunzt auch und gibt sogar leise Paukenwirbel – Sphärenmusik aus dem Tinnitus-Nirvana.

Ein Konzert, nach dem man die Welt mit anderen Ohren hört: für den Konzertgänger ein Höhepunkt des diesjährigen ULTRASCHALL-Festivals für neue Musik.

Auch das vorhergehende Konzert war ein Treffer, ein Doppelporträt der polnischen Klang-Tausendsassas Agata Zubel und Cezary Duchnowski: beide Komponisten, er Elektronikfummler, sie Stimmakrobatin. Es ist Musik, die den Hörer davonträgt, trotz de-ekstasierender Umbauphasen. (Existiert eigentlich eine Komposition für 3 Umbauer, Stühle und Notenpulte?) In Duchnowskis Parallels gibt es ein Crescendo, das Tote weckt, mit einem Urschrei wie in einer feministischen Selbsterfahrungsgruppe anno 1978 – und das aus den Rachen der virtuosen Filigranmusiker des Ensemble KNM Berlin unter der taiwanesischen Dirigentin Lin Liao, die so zart und elegant wirkt, als zwirne sie jadefarbene Seidenfäden, aber entschlossen musikalische Höchstleistungen koordiniert. Zwei weitere Stücke von Duchnowski: Die phasenweise aleatorische Drone Music knarzt und bibbert den Hörer in Trance. 1 5 1, 2 4 2, 3 3 3 für Violine, Cello und Elektronik klingt wie ein Stück von Anton Webern , das nachts von einem Geisterheer überfallen wird.

Agata Zubels Shades of Ice führen von zarten Klanggesten der Klarinette und des Cellos und ihren elektronischen Echos in ein mächtiges Rauschen, das den Hörer glauben macht, er befinde sich im Inneren eines gewaltigen Gletschers. Zubel krönt den Abend als ihre eigene Interpretin in Not I für Stimme und Ensemble: Ihr Outfit aus Lack, Spitze und Glitzer ließe Andrea Berg vor Neid erblassen, vor allem aber singt, spricht, flüstert, summt, keucht, schreit und lacht sie um Klassen besser. Der Geist des kargen Beckett-Monologs über eine verstummte, allmählich wieder zur Sprache gelangende Frau teilt sich mit starkem polnischen Akzent mit – eine überaus beeindruckende Vokalperformance. Auch der Instrumentalsatz für die sechs begleitenden Musiker wirkt famos. Wenn Zubels Stimme am Ende vertausendfacht den Raum flutet, verfliegen (wie später bei Franzsons Becken-Stück) alle Zweifel am Sinn der ständigen Live-Elektronik-Spiegelungen, die den Konzertgänger im Lauf des Festivals manchmal beschleichen; aber bei einem Wiener-Klassik-Festival hätte man ja auch nach vier Tagen den Sonatensatz über.

Schön, so Schönes aus Polen zu hören.

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16.1.2016 – Gedrängt: Radiale Nacht mit Teodor Currentzis und Patricia Kopatchinskaja

Der Homo oeconomicus tickt seltsam: Eine Frau mokiert sich über die 50-Cent-Gebühr für die Garderobe – vor einem Konzert mit einer Besetzung, für die man in Salzburg locker das Fünffache blechen würde. Aus der auf Einlass wartenden Menge, in der dutzende Menschen gedrängt stehen, ruft ein Mann: Ich stehe hier gedrängt! Antänzer sind zum Glück nur aus der Sasha Waltz Compagnie zu befürchten. Im Radialsystem V gibt sich Teodor Currentzis (den manche für ein Genie, andere für einen Hallodri halten) mit seiner Permer Originalklang-Wundertüte MusicAeterna die Ehre, aus diesem Anlass findet eine Radiale Nacht mit allem Pipapo statt, Kammermusik in allen Kammern und Aftershow-DJ.

In die Studios im 4. und 5. Stock ist schwer hochzugelangen, wer zu Panikattacken oder Atemnot neigt, sollte sich nicht ins Getümmel stürzen. Beim Recital of the Fittest in Studio C spielt der junge israelische Pianist Iddo Bar-Shai mit hoch springender Linker und quirliger Rechter Haydns geistreiche Klaviersonate Nr. 39 D-Dur im CPE-Bach-Stil. Als im Moll-Adagio zwei Tänzerinnen sich wie im Traum von ihren Sitzen erheben, schaut Bar-Shai etwas verdutzt, und Haydn klingt vertanzt plötzlich nach Schumann. Bar-Shai lässt sich davon ebenso wenig irritieren wie von den Bässen des DJ Acid Pauli, die aus Studio A herabdringen. In der Lounge kann man währenddessen Kammermusik von Mozart, Prokofjew und Steve Reich hören und dabei Bio-Buletten knabbern; wenn die Atmosphäre zu kneipig wird, gibt es zum Glück Besucher, die um Ruhe zischen.

Dicht gedrängt ist das Programm auch im Hauptteil des Programms mit Currentzis und MusicAeterna: Im Dunkeln erklingt zunächst Arvo Pärts sämig archaisierender Psalom, dessen Mystik für den Konzertgänger eher nach Vangelis als Josquin Desprez klingt, tintinnabula-Technik hin oder her. Da ist der gute alte Barockböhme Heinrich Ignaz Franz Biber doch ein anderes Kaliber! Der erste Geiger führt das Ensemble energisch und cool durch die Battalia D-Dur, ein aufregendes musikalisches Schlachtengemälde, das sich zwischendurch in ein geniales Chaos verwickelt. Das Ensemble mit Kontrabassisten in Lederjacke und orangem T-Shirt kann sich als liederliche gselschaft von allerley Humor hören und sehen lassen. Die Tänzer von Sasha Waltz haben indessen ein Plakat mit einem Zitat von David Bowie auf die Bühne getragen, dem das Konzert gewidmet ist (und nicht etwa Pierre Boulez): THE SUN MACHINE IS COMING DOWN AND WE’RE GONNA HAVE A PARTY.

Beethovens 5. Symphonie c-Moll dirigiert Teodor Currentzis dann ebenfalls im Geist einer battaglia, mit der Betonung auf con brio. Seinen weite Kreise ziehenden Dirigierstil kann man tänzerisch oder hampelig nennen, auf jeden Fall intensiv. Die Interpretation sieht allerdings extravaganter aus als sie klingt, es ist eine sehr solide Aufführung in hohem Tempo mit scharfen Akzenten, dem historischen Aufführungsstandard entsprechend, aber ohne die Differenziertheit eines Harnoncourt oder Norrington. Trotz Extrem-Fermate-Pausen gibt es doch bemerkenswert spannungsarme Übergänge bei diesem Hochdruck-Beethoven, der manchmal eher gedrängt als drängend wirkt. Dass die Waltz-Compagnie (in sehenswerten Kostümen von Esther Perbandt) die Symphonie vertanzt, ist schön anzusehen, gereicht der Musik aber nicht immer zum Vorteil: Ungebrochenes Freiheitspathos am Beginn (Hände recken sich durch Gitter), heftiges Gewirbel während der Durchführung oder ein sehnsüchtiger Blick im Andante con moto tragen nichts Erhellendes bei, sondern affirmieren die bleischweren Klischees, die diese Symphonie belasten. Gerade als man die Tanz-Choreografie als kompletten Fehlgriff abtun will, kommt es aber zu einem Clou, der alles rechtfertigt: Im Übergang vom Scherzo zum Finale mischen sich die Musiker mit den Tänzern – doch als das große Jubelfinale beginnt, erstarren die Tänzer mit konsternierten Blicken und… tanzen nicht mehr, sondern gehen umstandslos ab. Das ist ein beeindruckender Kontrast, der diese Symbiose von Musik und Tanz doch unvergesslich macht. Das Jubeln bleibt einem im Halse stecken, aber das Publikum bricht doch in frenetischen Beifall aus; was zumindest der musikantischen Wucht dieser Aufführung angemessen ist.

Gleichwohl kommt mit der Geigerin Patricia Kopatchinskaja noch ein gänzlich anderes Niveau in den Abend – und nun auch wirkliche musikalische Extravaganz. Statt Beethovens Violinkonzert spielt sie kurzentschlossen das Violinkonzert Nr. 5 A-Dur KV 219 von Wolfgang Amadeus Mozart. Currentzis brummelt irgendetwas Unverständliches in die vorderen drei Reihen, vielleicht eine Warnung vor dem, was Mozart gleich blüht. Den Eingang zum Allegro aperto spielt Kopatchinskaja mit Ultra-Flageolett, dass man einen Moment fürchtet, sie habe aus Versehen die chinesische Fabrikgeige ihrer zweijährigen Nichte mitgebracht. Auch die Kadenzen und die Übergänge zu den Ritornellen im Rondo schrubbt, knallt und fiepst sie, mal heftig, mal zart und gläsern, doch immer so bizarr, als hätte sie die Noten auf den Kopf gestellt, nach Beethovens Motto: Andersrum hab ich’s schon versucht. Das Wort Originalklang bekommt eine völlig neue Bedeutung: So hat man dieses Violinkonzert noch nie gehört. Wie keine andere Spitzengeigerin ist Kopatchinskaja bereit, schöne Stellen zu vergewaltigen; doch sie hat auch einen atemberaubend innigen Ton, etwa im melancholisch bis todtraurig singenden Adagio. Eine einzigartige Musikerin, wirklich nicht nur wegen ihrer nackten Füße.

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29.11.2015 – Nicht wenig brillierend: Alban Gerhardt spielt und diskutiert Bachs Cello-Suiten

Da staunt der Laie, wie offen das Herz ist, an dem der Interpret operiert. Zwar weiß er aus eigener dilettantischer Instrumentalunterrichterinnerung, dass mit dem korrekten Treffen des vorgeschriebenen Tons noch nichts gewonnen ist. Aber wenn der Cellist Alban Gerhardt im Radialsystem V dasselbe Präludium mal romantisch breit anspielt, mal mit kurzem Barockstrich, dann beflissen-etüdenhaft, wird dem Hörer klar, wie viele grundlegende Entscheidungen der Interpret treffen muss.

J.S. Bachs Cello-Suiten, in denen es kaum dynamische u.ä. Vorgaben gibt, eignen sich für diese Demonstration natürlich besser als etwa Beethovens Klaviersonaten, die von peniblen Spielanweisungen strotzen. Alban Gerhardts Gesprächspartner Clemens Goldberg, eloquenter wie kompetenter Kulturradio-Journalist, treibt den Cellisten bei den spieltechnischen Demonstrationen zu größerer Deutlichkeit,  ja Plakativität an. Ganz im Sinne des indiskreten Publikums, das dieser intimen Zwiesprache zwischen Musiker und Instrument beiwohnt. Da Goldberg selbst Cellist ist (und zwar ein hervorragender, wie er bei der 6. Suite D-Dur auf fünfsaitigem Barockcello beweist), gerät das Gespräch oft zur Fachsimpelei unter Praktikern, in der sich alles um Bögen, Bindungen und Bariolage dreht. Man bezweifelt den Sinn der wie zufällig gesetzten Striche, die Anna Magdalena Bach in der Handschrift des Präludiums der 1. Suite G-Dur gesetzt hat, spöttelt milde über Rostropowitschs Schlussfermate oder diskutiert die Verwendung des Daumens (wie auf Walter Ruttmanns Bild): streng verboten, aber unvermeidlich, wenn man Bach auf dem modernen Cello spielt.

Das ist anregend und aufschlussreich, allerdings keine Einführung in dem Sinne, wie sie in anderen didaktischen Formaten geboten wird. Hörer, die einem hochauratischen Meisterwerk auf die analytische Spur zu kommen hoffen, bleiben möglicherweise unbefriedigt. Aber der unverkrampfte Einblick in die Praxis und die Erkenntnis, dass Interpretationen mit spieltechnischen Entscheidungen beginnen, machen gerade den Reiz dieses lockeren Gesprächskonzerts aus.

Was das Große und Ganze angeht, wirft Goldberg immer wieder Deutungsmuster in den Raum, die Gerhardt eher zögerlich aufnimmt: Johan Matthesons Charakterisierungen der Tonarten etwa (G-Dur brilliert nicht wenig, erfahren wir, in Es-Dur führt man das Gespräch mit Gott, in D-Dur virtuosen Krieg) oder auch Goldbergs Insistieren auf maritimen Assoziationen. Das Cello da spalla, für das die Suiten ernüchternderweise eigentlich geschrieben sein könnten (und von dem es lustige Bilder gibt), tut Gerhardt nonchalant als blöde große Bratsche ab und plädiert dafür, die Suiten gern auch auf der Posaune zu blasen – wenn man es nur gut mache.

Mit elf Jahren, erinnert sich Alban Gerhardt, habe er alle sechs Cello-Suiten in einem Konzert gehört: die langweiligste Erfahrung seines Lebens. Die Besucher dieses Gesprächskonzerts, im Alter von 6 bis 99 Jahren, erleben anderthalb kurzweilige Stunden, die Lust auf die Cello-Suiten machen. Auch wenn man bei Rostropowitschs Schlussfermate von nun an die Stirn runzeln wird.

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14.11.2015 – Ausdauernd: Mandelring Quartett zelebriert stundenlang Mendelssohn

Erstens: Vive la France!

Zweitens: Darf man den Abend nach einer Nacht des Schreckens im Streichquartett-Elysium verbringen? Aber man hört ja auch himmlische Kammermusik und göttliche Symphonik, während syrische Familien von Fassbomben ausgelöscht werden, Flüchtlinge im Mittelmeer ertrinken und Bomben in Beirut explodieren. Der Name Mendelssohn steht für alles, was die Attentäter von Paris zerstören wollen: Lebensfreude, Wissbegier, Sanftmut, Liebe, Schönheit, Menschlichkeit. So ist es kein hilfloser Akt der Anteilnahme, sondern ganz passend, wenn das Mandelring Quartett das letzte Stück des Abends, von Felix in Trauer um seine gestorbene Schwester Fanny komponiert, den Opfern in Paris widmet.

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Es ist der Ausklang des Mendelssohn pur-Wochenendes, das Freitagabend mit den beiden Streichquintetten begann. Als eigentliche Herausforderung für Hörer wie Musiker gibt es am Samstagabend alle sieben Streichquartette von Felix Mendelssohn Bartholdy – ein Streichquartettabend in Lohengrin-Länge ist sogar in Berlin etwas Besonderes. Im Radialsystem V ist man regelmäßig schon bei Konzertbeginn geschlaucht, das lange Anstehen und Hineindrängeln hat easyjet-Flair; der Ort bliebe auch cool, wenn man kulturspießig die Plätze nummerieren würde. (Man muss ja nicht gleich so weit gehen und die Sitze polstern; der Nachbar des Konzertgängers, ein älterer Herr, hat sich ein Sitzkissen mitgebracht, daran erkennt man den Profi.)

Im ersten Teil des Konzerts gibt es die drei frühen Streichquartette Es-Dur ohne Opus, a-Moll op. 13 und Es-Dur op. 12 (1823, 27, 29). Logischerweise wiederholen sich die kompositorischen Mittel und Strukturen, aber man hört Mendelssohn ja nicht, weil er die Formen neu erfunden hätte. Im Gegenteil, in diesen im Alter zwischen 14 und 20 komponierten Werken spürt man den Segen der festen Form, in die ein hochbegabter Geist sich ergießen kann, statt erst einmal jahrelang um Form zu ringen. Faszinierend ist der oft barocke Sound dieser Stücke mit ihren vielen Fugati. Die eingängigen Mittelsätze, liedhaft und funkensprühend, erleichtern natürlich den Start in den Marathon. Der langsame Satz des a-Moll-Quartetts ist erschütternd intensiv für einen doch erst 18jährigen Komponisten. Das ebenso großartige Vogler Quartett hat dieses Stück mit seinem wehmütigen langsamen Rahmen vor einer Woche im Konzerthaus ergreifend gespielt; das Mandelring Quartett geht die Mittelsätze grundsätzlich schneller an, ohne romantische Breite, aber auch frei von klassizistischer Glätte, mit traumhaft singendem Ton zumal der ersten Geige (Sebastian Schmidt). Aber im Grunde ist es ungerecht, einen einzelnen hervorzuheben. Obwohl Andreas Willwohl an der Bratsche (als Leber des Quartetts, wie er sagt) erst im Sommer zu den drei Geschwistern Schmidt dazugestoßen ist, hat das Quartett eine homogene Spielkultur, als wäre es schon ewig in dieser Besetzung unterwegs.

In den brillanten drei Streichquartetten op. 44 D-Dur, e-Moll und Es-Dur könnte die perfekte Sonatenhauptsatzform der Rahmensätze den Hörer in Sicherheit bis Schlaf wiegen, aber das Mandelring Quartett musiziert sie (mit allen Wiederholungen) so feurig, dass daran nicht zu denken ist. Sollte sich an den Hörer der Gedanke an eine Bulette o.ä. heranschleichen, so verscheuchen ihn die himmlischen Arabesken der ersten Geige in Menuett und Andante des D-Dur-Quartetts oder die Coda des e-Moll-Quartetts, in der die Fetzen fliegen – aber sowas von konzis. Machen die Mandelrings gar nicht schlapp? Jedenfalls spielen sie länger präzise als das Ohr des Konzergängers präzise hört. Mag auch dieser und jener Hörer auf dem harten Stuhl herumrutschen, so verrutscht den Musikern kein Strich.

Und der Großteil der Hörer bleibt bis zum Schluss, gebannt bis berauscht. Das Streichquartett f-Moll op. 80 (1847), ein kammermusikalisches Requiem für Fanny, öffnet jeden Geist, der zwischendurch dichtgemacht hat: voll Zittern und Zagen und erschütternder Schreie, die fast die Form sprengen – aber nur fast, denn was dem jungen Komponisten den schöpferischen Absprung ermöglicht, gibt angesichts des Todes Halt: Form. Vom Mandelring Quartett bis kurz vor Mitternacht in nicht nachlassender Präzision zelebriert.

Nächstes Jahr spielen sie alles von Brahms.

Zum Konzert. Zum Mandelring Quartett. Zur Mendelssohn-CD des MQ.

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