Ukrainisch-umarmend

rsb, Jurowski, Alban Gerhardt spielen Werbyzkyj, Rubinstein, Smirnow und Tschaikowsky

Bei Vladimir Jurowski wird aus einem klaren politischen Statement gleich eine musikalische Weiterbohrung: Denn auf die ukrainische Nationalhymne, mit der nach spontaner Programmänderung das Konzert in der Philharmonie beginnt, spielt das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin noch ein weiteres Werk ihres Komponisten Mychajlo Werbyzkyj, die gut gearbeitete Sinfonische Ouvertüre D-Dur, schmissig wie ein Stück von Suppé. Vor allem aber ergeben sich atemberaubende, in der Mitte geradezu verstörende Bezüge zum planmäßigen Rest des Programms, auf dem drei höchst unterschiedliche Werke russischer Komponisten stehen.

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21.2.2016 – Apocalyptique: Abgrund der Möbel für Messiaen im Konzerthaus

Eine pünktlich um 21 Uhr piepsende Armbanduhr erinnert uns im Lobpreis der Ewigkeit Jesu (Louange à l’Éternité de Jésus) an das, was wir fast vergessen haben: dass wir uns physisch noch im Diesseits der Zeit befinden. Es ist nur ein Konzert. Aber was für eins: das Quatuor pour la fin du temps von Olivier Messiaen in Luxusbesetzung mit Jörg und Carolin Widmann, Alban Gerhardt und Momo Kodama.

Das Festival Frankreich, das am Freitag im Konzerthaus eröffnet wurde und bis zum 28. Februar dauert, wagt am Sonntag einen besonderen Spagat: nachmittags bunter Kindertag mit Carnaval des animaux, abends Messiaens gläserne Endzeitklänge, uraufgeführt 1941 im Kriegsgefangenenlager bei Görlitz – mehr zur Entstehungsgeschichte hier. (Am nächsten Wochenende bietet sich zum Abschluss des Festivals die Chance, Kind und Messiaen zusammenzubringen: Obwohl keine Familienveranstaltung, sondern ein normales Symphoniekonzert, ist Messiaens großes Turangalîla-Spektakel garantiert (schul)kindertaugliche Symphonik.)

Dem Quatuor eilt ein Ruf wie der siebte Posaunenhall voraus, dabei ist es unmittelbar zugängliche Musik, im 5. und 8. Satz sogar an der Grenze zum Kitsch. Die Zuhörer (unter ihnen Piotr Anderszewski, der am Montagabend ein Klavierrezital im Kammermusiksaal geben wird, natürlich nicht ohne den Konzertgänger) würden den Kleinen Saal des Konzerthauses berstend füllen. Das Konzert findet aber im Großen Saal statt – und doch sitzt man dichtgedrängt: Die Musiker spielen um 180 Grad gedreht, in Richtung Orgel, das Publikum sitzt nur auf und über dem Podium. Von dort schaut es hörend in den leeren Saal – und es stellt sich beim Anblick dieses Abgrunds der Möbel das Gefühl ein, ins Ende der Zeit zu blicken. Zum leeren Raum wird hier das Ende der Zeit. Eine faszinierende Idee, für die man die harte Holzbank vor der Orgel gern in Kauf nimmt.

Auch akustisch funktioniert die Inversion des Saals: Wenn man Jörg Widmanns solistischer Klarinette im 3. Satz Abîme des oiseaux (Abgrund der Vögel) zuhört, fragt man sich, ob man in diesem heiklen Saal schon je so kristallklare Klänge vernommen hat.

Über Widmanns Qualität als Klarinettist braucht man ohnehin kein Wort zu verlieren. Momo Kodama zaubert gläserne Klänge aus dem Steinway, die einen mitunter zweifeln lassen, ob da wirklich ein irdisches Instrument zu vernehmen ist. Alban Gerhardt spielt das Cello im 5. Satz Louange à l`Éternité de Jésus mit jenem ätherischen Ton, spröde und sanglich zugleich, den Carolin Widmanns Geige im 8. und letzten Satz Louange à l’Immortalité de Jésus aufnimmt und zur Vollendung führt: in immer höhere Regionen begibt sich ihr Ton, bis er durchsichtig wird und sich in Luft auflöst, Luft aus einer anderen Welt. Und wenn die vier Musiker sich in der eröffnenden Liturgie de Cristal und im 7. Satz Fouillis d’arcs-en-ciel (Wirbel der Regenbögen) vereinigen, katapultiert uns allein ihr perfektes Zusammenspiel ins Jenseits der Zeit.

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29.11.2015 – Nicht wenig brillierend: Alban Gerhardt spielt und diskutiert Bachs Cello-Suiten

Da staunt der Laie, wie offen das Herz ist, an dem der Interpret operiert. Zwar weiß er aus eigener dilettantischer Instrumentalunterrichterinnerung, dass mit dem korrekten Treffen des vorgeschriebenen Tons noch nichts gewonnen ist. Aber wenn der Cellist Alban Gerhardt im Radialsystem V dasselbe Präludium mal romantisch breit anspielt, mal mit kurzem Barockstrich, dann beflissen-etüdenhaft, wird dem Hörer klar, wie viele grundlegende Entscheidungen der Interpret treffen muss.

J.S. Bachs Cello-Suiten, in denen es kaum dynamische u.ä. Vorgaben gibt, eignen sich für diese Demonstration natürlich besser als etwa Beethovens Klaviersonaten, die von peniblen Spielanweisungen strotzen. Alban Gerhardts Gesprächspartner Clemens Goldberg, eloquenter wie kompetenter Kulturradio-Journalist, treibt den Cellisten bei den spieltechnischen Demonstrationen zu größerer Deutlichkeit,  ja Plakativität an. Ganz im Sinne des indiskreten Publikums, das dieser intimen Zwiesprache zwischen Musiker und Instrument beiwohnt. Da Goldberg selbst Cellist ist (und zwar ein hervorragender, wie er bei der 6. Suite D-Dur auf fünfsaitigem Barockcello beweist), gerät das Gespräch oft zur Fachsimpelei unter Praktikern, in der sich alles um Bögen, Bindungen und Bariolage dreht. Man bezweifelt den Sinn der wie zufällig gesetzten Striche, die Anna Magdalena Bach in der Handschrift des Präludiums der 1. Suite G-Dur gesetzt hat, spöttelt milde über Rostropowitschs Schlussfermate oder diskutiert die Verwendung des Daumens (wie auf Walter Ruttmanns Bild): streng verboten, aber unvermeidlich, wenn man Bach auf dem modernen Cello spielt.

Das ist anregend und aufschlussreich, allerdings keine Einführung in dem Sinne, wie sie in anderen didaktischen Formaten geboten wird. Hörer, die einem hochauratischen Meisterwerk auf die analytische Spur zu kommen hoffen, bleiben möglicherweise unbefriedigt. Aber der unverkrampfte Einblick in die Praxis und die Erkenntnis, dass Interpretationen mit spieltechnischen Entscheidungen beginnen, machen gerade den Reiz dieses lockeren Gesprächskonzerts aus.

Was das Große und Ganze angeht, wirft Goldberg immer wieder Deutungsmuster in den Raum, die Gerhardt eher zögerlich aufnimmt: Johan Matthesons Charakterisierungen der Tonarten etwa (G-Dur brilliert nicht wenig, erfahren wir, in Es-Dur führt man das Gespräch mit Gott, in D-Dur virtuosen Krieg) oder auch Goldbergs Insistieren auf maritimen Assoziationen. Das Cello da spalla, für das die Suiten ernüchternderweise eigentlich geschrieben sein könnten (und von dem es lustige Bilder gibt), tut Gerhardt nonchalant als blöde große Bratsche ab und plädiert dafür, die Suiten gern auch auf der Posaune zu blasen – wenn man es nur gut mache.

Mit elf Jahren, erinnert sich Alban Gerhardt, habe er alle sechs Cello-Suiten in einem Konzert gehört: die langweiligste Erfahrung seines Lebens. Die Besucher dieses Gesprächskonzerts, im Alter von 6 bis 99 Jahren, erleben anderthalb kurzweilige Stunden, die Lust auf die Cello-Suiten machen. Auch wenn man bei Rostropowitschs Schlussfermate von nun an die Stirn runzeln wird.

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