Da staunt der Laie, wie offen das Herz ist, an dem der Interpret operiert. Zwar weiß er aus eigener dilettantischer Instrumentalunterrichterinnerung, dass mit dem korrekten Treffen des vorgeschriebenen Tons noch nichts gewonnen ist. Aber wenn der Cellist Alban Gerhardt im Radialsystem V dasselbe Präludium mal romantisch breit anspielt, mal mit kurzem Barockstrich, dann beflissen-etüdenhaft, wird dem Hörer klar, wie viele grundlegende Entscheidungen der Interpret treffen muss.
J.S. Bachs Cello-Suiten, in denen es kaum dynamische u.ä. Vorgaben gibt, eignen sich für diese Demonstration natürlich besser als etwa Beethovens Klaviersonaten, die von peniblen Spielanweisungen strotzen. Alban Gerhardts Gesprächspartner Clemens Goldberg, eloquenter wie kompetenter Kulturradio-Journalist, treibt den Cellisten bei den spieltechnischen Demonstrationen zu größerer Deutlichkeit, ja Plakativität an. Ganz im Sinne des indiskreten Publikums, das dieser intimen Zwiesprache zwischen Musiker und Instrument beiwohnt. Da Goldberg selbst Cellist ist (und zwar ein hervorragender, wie er bei der 6. Suite D-Dur auf fünfsaitigem Barockcello beweist), gerät das Gespräch oft zur Fachsimpelei unter Praktikern, in der sich alles um Bögen, Bindungen und Bariolage dreht. Man bezweifelt den Sinn der wie zufällig gesetzten Striche, die Anna Magdalena Bach in der Handschrift des Präludiums der 1. Suite G-Dur gesetzt hat, spöttelt milde über Rostropowitschs Schlussfermate oder diskutiert die Verwendung des Daumens (wie auf Walter Ruttmanns Bild): streng verboten, aber unvermeidlich, wenn man Bach auf dem modernen Cello spielt.
Das ist anregend und aufschlussreich, allerdings keine Einführung in dem Sinne, wie sie in anderen didaktischen Formaten geboten wird. Hörer, die einem hochauratischen Meisterwerk auf die analytische Spur zu kommen hoffen, bleiben möglicherweise unbefriedigt. Aber der unverkrampfte Einblick in die Praxis und die Erkenntnis, dass Interpretationen mit spieltechnischen Entscheidungen beginnen, machen gerade den Reiz dieses lockeren Gesprächskonzerts aus.
Was das Große und Ganze angeht, wirft Goldberg immer wieder Deutungsmuster in den Raum, die Gerhardt eher zögerlich aufnimmt: Johan Matthesons Charakterisierungen der Tonarten etwa (G-Dur brilliert nicht wenig, erfahren wir, in Es-Dur führt man das Gespräch mit Gott, in D-Dur virtuosen Krieg) oder auch Goldbergs Insistieren auf maritimen Assoziationen. Das Cello da spalla, für das die Suiten ernüchternderweise eigentlich geschrieben sein könnten (und von dem es lustige Bilder gibt), tut Gerhardt nonchalant als blöde große Bratsche ab und plädiert dafür, die Suiten gern auch auf der Posaune zu blasen – wenn man es nur gut mache.
Mit elf Jahren, erinnert sich Alban Gerhardt, habe er alle sechs Cello-Suiten in einem Konzert gehört: die langweiligste Erfahrung seines Lebens. Die Besucher dieses Gesprächskonzerts, im Alter von 6 bis 99 Jahren, erleben anderthalb kurzweilige Stunden, die Lust auf die Cello-Suiten machen. Auch wenn man bei Rostropowitschs Schlussfermate von nun an die Stirn runzeln wird.
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