22.1.2017 – Überraschungsgastlich: Abschlusskonzert des Ultraschall-Festivals

Ein Irrtum ist zu korrigieren. Viele Musikhistoriker und Konzertführer behaupten, Anton Bruckner hätte keine Schüler und direkten Nachfolger gehabt. Das ist falsch: Bruckner hat einen Schüler und direkten Nachfolger. Er heißt Heinz und lebt in Niederbayern.

bruckner_anton_postcard-1910

Überraschungsgast bei Ultraschall

Zum Abschluss des Ultraschall-Festivals für neue Musik, das sich dieses Jahr dem Thema „Stimme“ widmete, spielt das Deutsche Symphonie-Orchester im rbb-Sendesaal die 5. Sinfonie „Jetzt und in der Stunde des Todes“  des 1946 geborenen Heinz Winbeck. Winbeck spricht mit der Stimme Bruckners, nicht des Vokalkomponisten, sondern des Symphonikers. Sein Werk nach Motiven insbesondere des Finales der IX. Symphonie (das es ja nicht gibt) umkreist Bruckner nicht indirekt und von ganz weit weg, wie es etwa Aribert Reimann in Nahe Ferne mit Beethoven tut, hat auch wenig mit Hans Zenders komponierten Interpretationen zu tun. Ursprünglich sollte Winbecks Werk In Bruckners Kopf heißen, das hätte schon gepasst.

Weiterlesen

20.1.2017 – Polyphon: Ultraschall-Festival im Heimathafen Neukölln

Die Verbindung Stimme/Streicher ist erotischer und epiphanischer als die klassische Kombination Stimme/Klavier. Das beweist das erste von drei Konzerten, die im Rahmen des Ultraschall-Festivals für neue Musik am Freitag im Heimathafen Neukölln stattfinden. Der Stimme in all ihren Facetten widmet sich das diesjährige, noch bis Sonntag laufende Festival.

gray956

Weiterlesen

15.7.2016 – Hörstörung (4): Plopp bei Stockhausen

Während der im Rahmen des heute endenden Festivals Infektion! vom Pianisten Adrian Heger in der Werkstatt der Staatsoper im Schillertheater so beeindruckend kompetent wie spielfreudig dargebotenen Klavierstücke I bis IX (1952-61) von Karlheinz Stockhausen, die der Konzertgänger sich zwischen einem erneuten Besuch von Salvatore Sciarrinos zwar recht oberflächlich, mitunter rosenkavalierchargenhaft inszenierter, doch sagenhaft schön tönender Oper Luci mie traditrici (heute zum letzten Mal) und dem an Hegers Rezital anschließenden Gesang der Jünglinge, Stockhausens elektronischer Pioniertat, einer im Jahr 2016 historisch interessanten, wenngleich akustisch öden Hörerfahrung, mit wachsendem geistigen und seelischen Gewinn anhörte, kam es – und zwar im III. oder IV. Klavierstück, die im Gegensatz zu den späteren, aus dem und in den Klang entstehenden, figurationenreichen Stücken für Konzertgängers Ohren noch nach bloßer serialistischer Parameterware klingen – zu einem unerhörten Ereignis, als in der streng determinierten Abfolge von Dauern, Höhen und Farben plötzlich das aus jeder Ordnung schlagende Ploppen des Bügelverschlusses einer Bierflasche zu hören war.

Zum Konzert / Zum Anfang des Blogs

24.1.2016 – Pianoforteverklärend: Ultraschall, letzter Tag

Schwachstarktastenkasten – dieser Name, den Beethoven für das innovative Pianoforte vorschlug, passt zum Programm, mit dem der Pianist Christoph Grund den letzten Tag des ULTRASCHALL-Festivals für neue Musik eröffnet. Es folgen noch ein Geigenrecital von Barbara Lüneburg und das Abschlusskonzert des Deutschen Symphonie-Orchesters.

Zwei Klaviersonaten der St. Petersburgerin Galina Ustwolskaja (1919-2006), die erst seit dem Ende der Sowjetunion allmählich bekannt wird, rahmen Christoph Grunds Recital im Radialsystem. Oft werden an Ustwolskajas Klaviermusik die x-fachen Fortissimi und extremen klanglichen Härten betont, die im Dienst einer sehr individuellen Spiritualität stehen. Doch an der Klaviersonate Nr. 5 (1986) fallen nicht nur die heftigen Cluster auf, sondern ebenso das lange Nachlauschen und die häufigen Paarungen sehr hoher und sehr tiefer Töne, wie in Beethovens Spätwerk – nur der Anschlag ist völlig anders: Harte Gnade manifestiert sich in dieser Musik. In der 6. Sonate (1988) gibt es ein solches Nachlauschen hingegen nur in einem kurzen Piano-Intermezzo kurz vor Schluss. Ansonsten walzt die Musik, von Grund mit vollem Unterarmeinsatz auf die Tastatur geschmettert, heftig über den Hörer hinweg. Erstaunlich aber, wie der ebenso feinnervige wie athletische Grund die Walze umstandslos anhält, um die Noten umzublättern; und danach weiterzuwalzen.

Leise, aber keineswegs an der Grenze zum Unhörbaren, wie gern geschrieben wird, komponiert Mark Andre, Komponist der Wunderzaichen, für Ultraschallverhältnisse geradezu eine Berühmtheit. Magische elektronische Klänge steigen in S3 direkt aus dem Flügelkorpus auf, ausgehend von Aufnahmen, die André in Istanbul gemacht hat. So wie es in der deutschen Literatur immer Romgedichte geben wird, so lange die Villa Massimo ihre Stipendien vergibt, so bringen die DAAD- und sonstigen Komponistenstipendien alle möglichen Stadtgeräusche in die Musik; etwa auch die Unterwasserrecordings von Karen Power.

Überaus dankbar hört man Andrés kontemplativ, ja spirituell sirrende Klänge. Man muss beim Hören die Augen schließen, um verklärt zu werden – und es funktioniert, der Konzertgänger hat die Ewigkeit erblickt. Wie sie aussah, weiß er danach nicht mehr; aber sie klang wunderschön.

Rummeliger geht es in Franck Bedrossians The edges are no longer parallel zu: Der ganzkörperverkabelte Pianist darf am, auf, ums und im Klavier all das machen, was man als Kind gern getan hätte, aber wegen der Nachbarn nicht durfte. Man hätte den Eltern sagen müssen: Ich will das Opertonspektrum analysieren und ein Meta-Klavier erzeugen. Ein grandioses Spektakel, aber auch kleinteilig, weil der finger- und handflächenfertige Pianist immer an einer anderen Stelle einen neuen Prozess in Gang setzen muss. – Zum Konzert

Zugang verpasst…

In Barbara Lüneburgs Solo-Recital gibt es eine Bildershow mit sehr schönen Fotos von Eisstrukturen, arktischen Landschaften und Schiffsbugen, interessante Sätze über Identität/identity aus Forschungsprojekten in sozialen Netzwerken sowie interessante Glazialklänge aus dem Lautsprecher. Der Konzertgänger fragt sich nur, wer die sympathische Frau ist, die da am Rand der Bühne steht und ein wenig auf der Geige herumstreicht. Aber man hat schon langweiligere Urlaubsdias gesehen.

Die junge Ultraschall-Reporterin hat in diesem Recital mehr gehört. – Zum Konzert

…und ein gelungener Ausstieg

Zum Abschluss des diesjährigen Ultraschall-Festivals tritt wieder das Deutsche Symphonie-Orchester auf, das auch das durchwachsene Eröffnungskonzert gespielt hat. Für Simone Young ist kurzfristig der Dirigent Franck Ollu eingesprungen. Im Großen Sendesaal im Haus des Rundfunks sitzt der Konzertgänger neben einem zufällig hereingeschneiten alten Herrn ohne Neue-Musik-Affinität, der hier vor 50 Jahren Ferenc Fricsay gehört hat und sich erinnert, wie weiland Karl Richter Bruckners Vierte verhunzte.

Liza Lims Pearl, Ochre, Hair String hat einen frohmachenden vollen symphonischen Sound, einen sehr spezifischen Ton, der wellenförmig durch das Orchester ritscht und ratscht, ausgehend vom Cello, das Mischa Meyer mit einem Bogen streicht, bei dem das Haar außenrum gewickelt ist. In Blau, See von Robert HP Platz deckt der Titel mehr Assoziationen zu, als dass er sie öffnete – trotzdem ist es ein fesselndes Oboenkonzert. Der Solist (François Leleux) musiziert gemeinsam mit dem Englischhorn auf der Empore, nach und nach treten weitere Instrumente hinzu. Bis die Große Trommel dreinfährt und das Stück zwar nicht abmurkst, aber in ständiger Wiederholung niederschmettert, so dass die Musik nur im Not-Modus weiterglimmt. In dem aber immer noch ein wunderbares Zwiespiel von Oboe und Tuba möglich ist. – Schön auch die eigens von Platz komponierte Zugabe, in der die Oboe scheherazadeerlesen auf einem Liege- oder besser Schwebeton von Flöten, Klarinetten, Hörnern und Trompeten singt. Leleux macht das vom Festival ermüdete Auditorium eindringlich auf die Qualität dieser Musik aufmerksam – so dass es sich doch noch zum rauschenden Applaus durchringt.

Das war ja Musik, murmelt der Fricsay-Veteran.

Zum Abschluss FLUCHT. Sechs Passagen von Peter Ruzicka, Vorgeschmack auf eine entstehende Walter-Benjamin-Oper: makellos theatralische Musik, die das Ausdrucksrad nicht gerade neu erfindet. Es gibt 6 klar unterscheidbare Abschnitte, jeder auf seine Weise gehetzt. Das klingt mitunter etwas routiniert, aber gut; und nach 5 Tagen neuer Musik mögen auch die Ohren des Konzertgängers erschöpft sein. – Zum Konzert

Zu Ultraschall / Zum Anfang des Blogs

 

 

23.1. – Zimbelstimmig: Schlagzeugwunder und polnische Avantgarde bei Ultraschall

Das Thema Zeit macht sich immer gut auf einem Festival – vor allem wenn es für manchen Zuhörer bereits das vierte Konzert des Tages ist und er schon das eine oder andere Glas Wein getrunken hat. Dann verräumlicht die Zeit sich ganz von allein, kompositorische Struktur hin, Dynamik her. Aber für den Konzertgänger ist das Solo-Recital des Schlagzeugers Matthias Engler vom deutsch-isländischen Ensemble Adapter im Radialsystem erst das zweite Konzert am Samstag, und er hat zuvor nur Kaffee getrunken – trotzdem kommt er in diesen 50 Minuten dem Musil’schen anderen Zustand ganz nah.

Engler präsentiert keine Schlagzeug-Wundertüte, sondern eher kleine Aufbauten, dafür umso stärkere Kompositionen. The Cartography of Time des Isländers David Brynjar Franzson, in dem es angeblich irgendwie um Zeitvorstellungen von Augustinus und Wittgenstein geht, ist ein ultra-reduziertes Werk: nur ein einzelnes Becken, das mit einem Bogen gestrichen wird, wobei der Percussionist seine Finger auf dem Blech versetzt. Dazu zimbeln live-elektronische Klänge (Matthias Erb) durch den Raum; was genau was ist, bleibt oft unklar. Dafür setzt es in Iannis Xenakis‘ Psappha (1975) heftige Schläge – ein Klassiker mit wenigen, doch umso heftigeren Kontrasten, avanciert und archaisch zugleich. Man meint, gleich den falsettierenden Orest zur Blutrache schreiten zu sehen; dabei ist der Titel Psappha eine archaische Form des Namens Sappho. In Hannes Seidls Die Illusion zu erzeugen, dass die Zeit dynamisch und bedeutsam vergeht (2006), nun wieder mit Live-Elektronik, dominiert dann das Klingelnde, Schrille, Kettenklappernde und hochfrequentes Fiepsen. Aber es grunzt auch und gibt sogar leise Paukenwirbel – Sphärenmusik aus dem Tinnitus-Nirvana.

Ein Konzert, nach dem man die Welt mit anderen Ohren hört: für den Konzertgänger ein Höhepunkt des diesjährigen ULTRASCHALL-Festivals für neue Musik.

Auch das vorhergehende Konzert war ein Treffer, ein Doppelporträt der polnischen Klang-Tausendsassas Agata Zubel und Cezary Duchnowski: beide Komponisten, er Elektronikfummler, sie Stimmakrobatin. Es ist Musik, die den Hörer davonträgt, trotz de-ekstasierender Umbauphasen. (Existiert eigentlich eine Komposition für 3 Umbauer, Stühle und Notenpulte?) In Duchnowskis Parallels gibt es ein Crescendo, das Tote weckt, mit einem Urschrei wie in einer feministischen Selbsterfahrungsgruppe anno 1978 – und das aus den Rachen der virtuosen Filigranmusiker des Ensemble KNM Berlin unter der taiwanesischen Dirigentin Lin Liao, die so zart und elegant wirkt, als zwirne sie jadefarbene Seidenfäden, aber entschlossen musikalische Höchstleistungen koordiniert. Zwei weitere Stücke von Duchnowski: Die phasenweise aleatorische Drone Music knarzt und bibbert den Hörer in Trance. 1 5 1, 2 4 2, 3 3 3 für Violine, Cello und Elektronik klingt wie ein Stück von Anton Webern , das nachts von einem Geisterheer überfallen wird.

Agata Zubels Shades of Ice führen von zarten Klanggesten der Klarinette und des Cellos und ihren elektronischen Echos in ein mächtiges Rauschen, das den Hörer glauben macht, er befinde sich im Inneren eines gewaltigen Gletschers. Zubel krönt den Abend als ihre eigene Interpretin in Not I für Stimme und Ensemble: Ihr Outfit aus Lack, Spitze und Glitzer ließe Andrea Berg vor Neid erblassen, vor allem aber singt, spricht, flüstert, summt, keucht, schreit und lacht sie um Klassen besser. Der Geist des kargen Beckett-Monologs über eine verstummte, allmählich wieder zur Sprache gelangende Frau teilt sich mit starkem polnischen Akzent mit – eine überaus beeindruckende Vokalperformance. Auch der Instrumentalsatz für die sechs begleitenden Musiker wirkt famos. Wenn Zubels Stimme am Ende vertausendfacht den Raum flutet, verfliegen (wie später bei Franzsons Becken-Stück) alle Zweifel am Sinn der ständigen Live-Elektronik-Spiegelungen, die den Konzertgänger im Lauf des Festivals manchmal beschleichen; aber bei einem Wiener-Klassik-Festival hätte man ja auch nach vier Tagen den Sonatensatz über.

Schön, so Schönes aus Polen zu hören.

Zum Schlagzeug-Recital / Zum Zubel-Duchnowski-Konzert / Zum Anfang des Blogs

22.1.2016 – Klangredlich bis infernalisch: Ultraschall in Kreuzberg und Neukölln

Ultraschall Berlin, das Festival für neue Musik wandert durch Berlin, und der Konzertgänger zieht mit – nur nach Oberschöneweide hat seine Familie ihn nicht gelassen: Nach dem Auftakt im Westend und einer Expedition ins DDR-Funkhaus Nalepastraße ging es am Freitag nach Kreuzberg in die Heilig-Kreuz-Kirche und nach Neukölln in den Heimathafen – zeitgenössische Musik einmal klassisch (sehr überzeugend) und einmal heiter bis infernalisch (durchwachsen).

Heilig-Kreuz-Kirche Kreuzberg

Wie über neue Musik gesprochen wird, ist oft das größere Problem als wie sie klingt – die Lektüre von Gegenwartsmusikprogrammen ist meist erheiternd bis quälend. In dem Kreuzberger Konzert, das drei in Berlin lebende Komponisten vorstellt, werden die Schöpfer ans Mikrofon bestellt und fühlen sich erkennbar unwohl: Einer bringt es nüchtern hinter sich. Einer erklärt sogleich, dass man über Musik nicht so viel reden solle (spricht dann aber doch eloquent über sequenzielle Prozesse etc). Einer bleibt stecken und verstummt nahezu, als er  nach seinem Verhältnis zu Bruckner gefragt wird. Macht nichts – denn die Musik klingt durchweg inspiriert.

Je zwei Werke spielt das hervorragende elfköpfige Zafraan Ensemble mit schwangerer Harfenistin (was immer ein gutes Omen für ein Konzert ist) unter der Leitung von Titus Engel (der mit seiner lustigen Fransenfrisur als TV-Dirigent übergecastet wirken würde): ein älteres für kleinere Besetzung und ein aktuelles fürs ganze Ensemble als Uraufführung. Alles unter dem etwas gesuchten Leitbegriff Klangrede, der es aber insofern doch trifft, als alle Stücke ohne Erläuterung für sich selbst sprechen.

Das Quintett des Israeli Eres Holz überzeugt nicht nur durch seinen Verzicht auf einen aufgeblasenen Titel, sondern durch seinen geschmeidigen, sehr homogenen Klang – man meint, den Geist des Madrigalgesangs zu spüren, von dem der erfahrene Chorsänger Holz schwärmt. Holz‘ neues Werk Kataklothes bezieht sich auf eine homerische Bezeichnung für die Moiren und spinnt tatsächlich, als wär’s Gesualdo, einen Klang aus dem anderen; keinen Moment verliert der Konzertgänger das Interesse. Selbst wenn Holz zwei schöne Schlüsse verpasst – der dritte klingt auch gut.

Das Klaviertrio des Deutschen Johannes Boris Borowski (der momentan ein Klavierkonzert für Daniel Barenboim komponiert) ist klassisch besetzt und klingt exakt drei Töne lang nach Brahms; danach wird’s etwas pfriemelig, auch wenn die Instrumente sehr gekonnt interagieren und die Streicher tolle Glissandi haben. Auch dieses Stück verpasst einen guten Schluss, dafür gibt es einen langen Flageolett-Diskant-Epilog. – Spektakulär ist Borowskis Ensemble-Stück Dex: Unter dem schlechthin statischen Klang eines Kuckucksrufs, vom Pianisten geflötet, versucht die Musik sich zu regen, bis sie einen heftigen Push bekommt (wie Bergsteiger durch eine Injektion Dexamethason) und abgeht wie der Gehörnte – um am Ende wieder alle Luft zu verlieren. Die Kuckucksrufe werden immer länger und kläglicher, dazu quakt so etwas wie ein Ochsenfrosch, vielleicht als Hadesbegleiter.

Viel Spaß macht auch die Musik des Schweizers Stefan Keller, der die Tabla zu spielen versteht und in Jeans und Schluffpulli tiefe Abgeklärtheit ausstrahlt. Sein Stück Hammer für die Jazzbesetzung Saxophon, Klavier, Schlagzeug hämmert nicht, sondern mäandert eher. Das Saxophon klingt stellenweise wie improvisiert, spielt Mini-Motive aus 2 oder 3 Tönen, die plötzlich explodieren. Im Vergleich zu Holz und Borowski wirkt Kellers Musik etwas additiver, dafür verpasst sie keinen Schluss. Der Titel Soma oder die Lust am Fallenlassen mag etwas zeigefingrig sein, aber man lässt sich gerne fallen, lehnt sich zumindest zurück und betrachtet durchs Apsisfenster den Mond, während sich der Schlagzeuger Daniel Eichholz die Seele aus dem Leib spielt.

Alles Stücke und Komponisten, die man gerne wiederhören möchte. Zum Konzert.

Heimathafen Neukölln

Was man vom zweiten Konzert im überfüllten Heimathafen nicht behaupten kann. Dabei beginnt und endet es toll, auch wenn man es am Schluss kaum mehr mitbekommt…

Die Ballate No. 2 & 3 des Italieners Francesco Filidei sind zarte Klangskulpturen voller Flirren und Ratschen, zunächst fast besinnlich, dann auch theatralisch und turbulent. Die Ballata 3 ist ein subtiles Klavierkonzert, in dem der Pianist Ernst Surberg unmerklich virtuos den Solistenpart übernimmt. Das ensemble mosaik unter der Leitung des Komponisten-Dirigenten Enno Poppe (der im Lustige-Frisuren-Wettbewerb Titus Engel noch aussticht) ist prädestiniert für diese völlig entschlackte, trotzdem feinsinnige und physische Musik. – Auch entschlackt, aber enttäuschend ist dagegen Filideis Bühnenwerk L’Opera (forse), in dem ein Sprecher und sechs Musiker ohne Instrumente die Geschichte von der Liebe einer Nachtigall und eines Karpfens erzählen. Ornitho-ichthyologische Geräuschmusik mit Flaschenblasen und Besteckklappern: hübsche Kleinkunst, der doch das gewisse Etwas fehlt. Sicher auch aufgrund des schwachen Texts und der bemühten Heiterkeit des Sprechers, die den Humorcharme von bundesrepublikanischem 50er-Jahre-Fernsehen ausstrahlt. Außerdem hält keine Vogelmusik dem Vergleich stand, den man als Hörer mit der Erinnerung an die Vogelstimmen eines Frühlingsmorgens oder den Gesang einer Nachtigall im Gebüsch neben der Philharmonie anstellt.

Zur Geduldsprobe wird dann die Solo-Performance des Schlagzeugers Håkon Stene, auch wenn der garantiert ein Spitzenmusiker ist. Matthew Shlomowitz‘ Popular Contexts, Volume 8: Five Soundscapes for a contemporary percussionist verbindet isolierte Alltagsgeräusche (Bus, Flugzeug, Motorsäge, Gewitter usw.) notdürftig mit glöckchenlastigen Schlagzeug-Einlagen. Jeder Spaziergang auf der Neuköllner Karl-Marx-Straße ist akustisch interessanter. Schlimm wird es, als Stene zu einem L’après-midi-d’un-faune-Verschnitt trommeln muss. Das Finale klingt zwar, als träfen sich Edgar Varèse, Slayer und die Teletubbies zu einem Gig, also gar nicht schlecht, aber das Stück ist gelaufen. – In Trond Reinholdtsens ulkig-zornigem Inferno muss Stene sich auf andere Weise verausgaben: hinsetzen, aufstehen, rumrennen. Als Schlagzeuger hat er dagegen nur Knöpfe zu drücken, die trommlerische Höllenmaschinen in Gang setzen. Dazu gibt es auf Video Material- und Formstudien eines schlecht verkleideten Gorillas, wie man sie tatsächlich von manchem Neue-Musik-Konzert kennt: pantschen, mantschen, rühren, klöppeln. Als der Gorilla schließlich zur scheppernden Meistersinger-Ouvertüre 13 Minuten lang ein Riesenomelett backt und verspeist, leert sich der Saal rapide. Die Zumutung ist so gewaltig, dass sie schon etwas Großartiges hat. Nur musikalisch ist diese Video-Theater-Installation einfach nicht von Belang.

Leider gerät das interessante letzte Stück des Abends dadurch unter die  Räder. Die Irin Karen Power hat für veiled babble die Stadt Berlin aus dem Wasser belauscht und die Hydrophon-Aufnahmen mit spärlichen Instrumentalklängen verwoben. Diese den Hörer umkreisenden und in Trance versetzenden erlesenen Klanggebilde, durch die Saxophon und Bassflöte dringen wie ferne Nebelhörner, hätten frischere Ohren verdient, sie würden eine Empfänglichkeit und Sensibilität des Hörers erfordern, mit der es nach dem Inferno nicht mehr weit her ist. Stattdessen beginnt der Nachbar des Konzertgängers zu schnarchen. Schade um das Stück, weniger mehr gewesen. Zum Konzert

Samstag und Sonntag geht’s weiter im Radialsystem.

Zu Ultraschall / Zum Anfang des Blogs

 

20.1.2016 – Ohne Unterlass: DSO mit Kristjan Järvi und James Carter eröffnet Ultraschall-Festival

In Berlin ist immer Festival. Nach inoffiziellen Festtagen alter Musik mit dem Freiburger BarockConsort, der Akademie für Alte Musik und MusicAeterna wurde am Mittwoch ULTRASCHALL BERLIN eröffnet, das gemeinsame Festival für neue Musik von Kulturradio und Deutschlandradio Kultur. Im Haus des Rundfunks spielte das Deutsche Symphonie-Orchester unter der Leitung von Kristjan Järvi, jüngstem Spross der musikalischen Järvi-Sippe, gebürtigem Esten und naturalisiertem Amerikaner, ausschließlich amerikanische Musik von 1990 bis 2013.

Es ist sympathisch, dass neue Musik heute mit kleinem n geschrieben wird und ein Gegenwartsfestival nicht mehr mit Klängen eröffnen muss, die jedem zufällig hereingepurzelten Hörer einen Schreck bis ans Ende seiner Tage einjagen. Aber ganz so harmlos, wie dieses Konzert beginnt, muss es vielleicht auch nicht sein. Aaron Jay Kernis bezieht sich in Musica Celestis (1990) auf Hildegard von Bingen und imaginiert ohne Unterlass singende Engel im Himmel. Wenn man in Michael Heinemanns einschüchternd gelehrtem Reclambändchen Kleine Geschichte der Musik von der heftigen Irritation liest, die Hildegards eher aus Unkenntnis denn aus Mutwillen nonkonforme Kompositionen bei ihren Zeitgenossen ausgelöst haben müssen, ist Kernis‘ makelloser Wohlklang schon erstaunlich. Das Stück beginnt und endet wie Lohengrin, ist dazwischen bewegter, in seinen Aufwärtsbewegungen etwas plakativ; in der zweiten Hälfte gibt es eine interessante Passage: eine Steigerung ins Schrille, dann eine Generalpause und schließlich gläserne Zaubertonsphäre. Trotzdem: Wenn das Himmelsmusik ist, dann doch lieber zu Pierre Boulez in die Hölle.

Was bei Kernis Hildegard, ist bei Philip Lasser Bach und das Problem ähnlich. Der Komponist erläutert, sein klassisch dreisätziges Klavierkonzert The Circle and the Child (2013) basiere auf dem Choral Ihr Gestirn‘, ihr hohen Lüfte BWV 476, und erläutert vollmundig: Wie ein erlesener Duft strömt sein Choral aus jeder Passage meines Konzerts (Zitat aus dem Programmheft). Die aus dem Choral herausgefilterte aufsteigende fünftönige Skala entpuppt sich dann jedoch als die untere Hälfte der C-Dur-Tonleiter, die sich auch aus Alle meine Entchen herausfiltern lässt, und wiederholt sich tatsächlich ohne Unterlass. Es ist zwar witzig, wenn der 2. Satz dann mit einer 5fachen Tonrepetition beginnt, aber die Musik fließt und klingelt einlullend, selbst die eingestreuten Bitonalitäten im Finale. Die Pianistin Simone Dinnerstein klimpert tiefenentspannt mit. – Freundlicher Applaus sowie zwei halbe Buhrufe, die keinen ganzen ergeben.

Zum Glück wird es nach der Pause besser. 40 Changing Orbits /(2012) des Opernkomponisten und Rappers Gene Pritsker, der schon mit dem großen Joe Zawinul musizierte, ist durchaus fernsehshowtauglich und mitwippbar, aber mehr als Bigbandsound, die Orchesterfarben schillern in allen Nuancen; wenngleich die Musiker des DSO auch hier noch etwas unterfordert wirken. Erfahrungswert, schon beim Konzerthausorchester bemerkt: Wenn eine Aufführung die Musiker nervt, sieht man es am deutlichsten in den Gesichtern der Bratscher.

Der Dirigent Kristjan Järvi nervt allerdings nicht, er leitet umsichtig und tanzt sympathisch ungelenk mit. Noch weniger nervt der großartige Saxophonist James Carter (hier bei den Leverkusener Jazztagen 2004), der den Abend rettet: in Roberto Sierras Concerto for Saxophones and Orchestra (2002). Es gibt definitiv zu wenige Saxophonkonzerte in der klassischen Musik; erst recht von jazzkundigen Ligeti-Schülern, wie Sierra einer ist. Es ist kein Jazz mit Symphonieorchester, sondern ein klassisches Solokonzert (wenngleich jazziger als die jazzigen Stücke von Milhaud, Ravel oder Strawinsky), das Orchester antwortet, spielt, streitet mit dem Solisten. Vor allem aber trägt es ihn auf Flügeln, mit gutem Grund. Schon bei der ersten Solokadenz (mit Tenorsaxophon) gibt es berechtigten Zwischenapplaus für den ohne Unterlass virtuosen Carter. Im zweiten Satz greift Carter zum Sopransaxophon, Donau und Mississippi (oder Hudson) treffen aufeinander, und das Instrument klappert, pustet, keucht und pocht wie bei Lachenmann, nur viel lustiger. Das ist Musica celestis: ein sensationell gutes Konzert mit einem grandiosen Musiker.

Am Donnerstag steht bei Ultraschall kein Mangel an kompositorischem Ernst zu befürchten: In den Rundfunkstudios der DDR in der Nalepastraße, tief im Osten Berlins, gibt es eine Hommage an den 90jährigen Friedrich Cerha, den österreichischen Doyen der Nachkriegs-Avantgarde und Lulu-Vollender. Am Freitag geht es nach Kreuzberg und Neukölln, am Wochenende nach Friedrichshain, bevor das Festival Sonntagabend zum Abschluss in den Großen Sendesaal im Haus des Rundfunks zurückkehrt.

Hier geht’s zu den Festivalberichten junger Reporter von 15 bis 24.

Zum Konzert / Zum Anfang des Blogs