Der Homo oeconomicus tickt seltsam: Eine Frau mokiert sich über die 50-Cent-Gebühr für die Garderobe – vor einem Konzert mit einer Besetzung, für die man in Salzburg locker das Fünffache blechen würde. Aus der auf Einlass wartenden Menge, in der dutzende Menschen gedrängt stehen, ruft ein Mann: Ich stehe hier gedrängt! Antänzer sind zum Glück nur aus der Sasha Waltz Compagnie zu befürchten. Im Radialsystem V gibt sich Teodor Currentzis (den manche für ein Genie, andere für einen Hallodri halten) mit seiner Permer Originalklang-Wundertüte MusicAeterna die Ehre, aus diesem Anlass findet eine Radiale Nacht mit allem Pipapo statt, Kammermusik in allen Kammern und Aftershow-DJ.
In die Studios im 4. und 5. Stock ist schwer hochzugelangen, wer zu Panikattacken oder Atemnot neigt, sollte sich nicht ins Getümmel stürzen. Beim Recital of the Fittest in Studio C spielt der junge israelische Pianist Iddo Bar-Shai mit hoch springender Linker und quirliger Rechter Haydns geistreiche Klaviersonate Nr. 39 D-Dur im CPE-Bach-Stil. Als im Moll-Adagio zwei Tänzerinnen sich wie im Traum von ihren Sitzen erheben, schaut Bar-Shai etwas verdutzt, und Haydn klingt vertanzt plötzlich nach Schumann. Bar-Shai lässt sich davon ebenso wenig irritieren wie von den Bässen des DJ Acid Pauli, die aus Studio A herabdringen. In der Lounge kann man währenddessen Kammermusik von Mozart, Prokofjew und Steve Reich hören und dabei Bio-Buletten knabbern; wenn die Atmosphäre zu kneipig wird, gibt es zum Glück Besucher, die um Ruhe zischen.
Dicht gedrängt ist das Programm auch im Hauptteil des Programms mit Currentzis und MusicAeterna: Im Dunkeln erklingt zunächst Arvo Pärts sämig archaisierender Psalom, dessen Mystik für den Konzertgänger eher nach Vangelis als Josquin Desprez klingt, tintinnabula-Technik hin oder her. Da ist der gute alte Barockböhme Heinrich Ignaz Franz Biber doch ein anderes Kaliber! Der erste Geiger führt das Ensemble energisch und cool durch die Battalia D-Dur, ein aufregendes musikalisches Schlachtengemälde, das sich zwischendurch in ein geniales Chaos verwickelt. Das Ensemble mit Kontrabassisten in Lederjacke und orangem T-Shirt kann sich als liederliche gselschaft von allerley Humor hören und sehen lassen. Die Tänzer von Sasha Waltz haben indessen ein Plakat mit einem Zitat von David Bowie auf die Bühne getragen, dem das Konzert gewidmet ist (und nicht etwa Pierre Boulez): THE SUN MACHINE IS COMING DOWN AND WE’RE GONNA HAVE A PARTY.
Beethovens 5. Symphonie c-Moll dirigiert Teodor Currentzis dann ebenfalls im Geist einer battaglia, mit der Betonung auf con brio. Seinen weite Kreise ziehenden Dirigierstil kann man tänzerisch oder hampelig nennen, auf jeden Fall intensiv. Die Interpretation sieht allerdings extravaganter aus als sie klingt, es ist eine sehr solide Aufführung in hohem Tempo mit scharfen Akzenten, dem historischen Aufführungsstandard entsprechend, aber ohne die Differenziertheit eines Harnoncourt oder Norrington. Trotz Extrem-Fermate-Pausen gibt es doch bemerkenswert spannungsarme Übergänge bei diesem Hochdruck-Beethoven, der manchmal eher gedrängt als drängend wirkt. Dass die Waltz-Compagnie (in sehenswerten Kostümen von Esther Perbandt) die Symphonie vertanzt, ist schön anzusehen, gereicht der Musik aber nicht immer zum Vorteil: Ungebrochenes Freiheitspathos am Beginn (Hände recken sich durch Gitter), heftiges Gewirbel während der Durchführung oder ein sehnsüchtiger Blick im Andante con moto tragen nichts Erhellendes bei, sondern affirmieren die bleischweren Klischees, die diese Symphonie belasten. Gerade als man die Tanz-Choreografie als kompletten Fehlgriff abtun will, kommt es aber zu einem Clou, der alles rechtfertigt: Im Übergang vom Scherzo zum Finale mischen sich die Musiker mit den Tänzern – doch als das große Jubelfinale beginnt, erstarren die Tänzer mit konsternierten Blicken und… tanzen nicht mehr, sondern gehen umstandslos ab. Das ist ein beeindruckender Kontrast, der diese Symbiose von Musik und Tanz doch unvergesslich macht. Das Jubeln bleibt einem im Halse stecken, aber das Publikum bricht doch in frenetischen Beifall aus; was zumindest der musikantischen Wucht dieser Aufführung angemessen ist.
Gleichwohl kommt mit der Geigerin Patricia Kopatchinskaja noch ein gänzlich anderes Niveau in den Abend – und nun auch wirkliche musikalische Extravaganz. Statt Beethovens Violinkonzert spielt sie kurzentschlossen das Violinkonzert Nr. 5 A-Dur KV 219 von Wolfgang Amadeus Mozart. Currentzis brummelt irgendetwas Unverständliches in die vorderen drei Reihen, vielleicht eine Warnung vor dem, was Mozart gleich blüht. Den Eingang zum Allegro aperto spielt Kopatchinskaja mit Ultra-Flageolett, dass man einen Moment fürchtet, sie habe aus Versehen die chinesische Fabrikgeige ihrer zweijährigen Nichte mitgebracht. Auch die Kadenzen und die Übergänge zu den Ritornellen im Rondo schrubbt, knallt und fiepst sie, mal heftig, mal zart und gläsern, doch immer so bizarr, als hätte sie die Noten auf den Kopf gestellt, nach Beethovens Motto: Andersrum hab ich’s schon versucht. Das Wort Originalklang bekommt eine völlig neue Bedeutung: So hat man dieses Violinkonzert noch nie gehört. Wie keine andere Spitzengeigerin ist Kopatchinskaja bereit, schöne Stellen zu vergewaltigen; doch sie hat auch einen atemberaubend innigen Ton, etwa im melancholisch bis todtraurig singenden Adagio. Eine einzigartige Musikerin, wirklich nicht nur wegen ihrer nackten Füße.
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