Das Thema Zeit macht sich immer gut auf einem Festival – vor allem wenn es für manchen Zuhörer bereits das vierte Konzert des Tages ist und er schon das eine oder andere Glas Wein getrunken hat. Dann verräumlicht die Zeit sich ganz von allein, kompositorische Struktur hin, Dynamik her. Aber für den Konzertgänger ist das Solo-Recital des Schlagzeugers Matthias Engler vom deutsch-isländischen Ensemble Adapter im Radialsystem erst das zweite Konzert am Samstag, und er hat zuvor nur Kaffee getrunken – trotzdem kommt er in diesen 50 Minuten dem Musil’schen anderen Zustand ganz nah.
Engler präsentiert keine Schlagzeug-Wundertüte, sondern eher kleine Aufbauten, dafür umso stärkere Kompositionen. The Cartography of Time des Isländers David Brynjar Franzson, in dem es angeblich irgendwie um Zeitvorstellungen von Augustinus und Wittgenstein geht, ist ein ultra-reduziertes Werk: nur ein einzelnes Becken, das mit einem Bogen gestrichen wird, wobei der Percussionist seine Finger auf dem Blech versetzt. Dazu zimbeln live-elektronische Klänge (Matthias Erb) durch den Raum; was genau was ist, bleibt oft unklar. Dafür setzt es in Iannis Xenakis‘ Psappha (1975) heftige Schläge – ein Klassiker mit wenigen, doch umso heftigeren Kontrasten, avanciert und archaisch zugleich. Man meint, gleich den falsettierenden Orest zur Blutrache schreiten zu sehen; dabei ist der Titel Psappha eine archaische Form des Namens Sappho. In Hannes Seidls Die Illusion zu erzeugen, dass die Zeit dynamisch und bedeutsam vergeht (2006), nun wieder mit Live-Elektronik, dominiert dann das Klingelnde, Schrille, Kettenklappernde und hochfrequentes Fiepsen. Aber es grunzt auch und gibt sogar leise Paukenwirbel – Sphärenmusik aus dem Tinnitus-Nirvana.
Ein Konzert, nach dem man die Welt mit anderen Ohren hört: für den Konzertgänger ein Höhepunkt des diesjährigen ULTRASCHALL-Festivals für neue Musik.
Auch das vorhergehende Konzert war ein Treffer, ein Doppelporträt der polnischen Klang-Tausendsassas Agata Zubel und Cezary Duchnowski: beide Komponisten, er Elektronikfummler, sie Stimmakrobatin. Es ist Musik, die den Hörer davonträgt, trotz de-ekstasierender Umbauphasen. (Existiert eigentlich eine Komposition für 3 Umbauer, Stühle und Notenpulte?) In Duchnowskis Parallels gibt es ein Crescendo, das Tote weckt, mit einem Urschrei wie in einer feministischen Selbsterfahrungsgruppe anno 1978 – und das aus den Rachen der virtuosen Filigranmusiker des Ensemble KNM Berlin unter der taiwanesischen Dirigentin Lin Liao, die so zart und elegant wirkt, als zwirne sie jadefarbene Seidenfäden, aber entschlossen musikalische Höchstleistungen koordiniert. Zwei weitere Stücke von Duchnowski: Die phasenweise aleatorische Drone Music knarzt und bibbert den Hörer in Trance. 1 5 1, 2 4 2, 3 3 3 für Violine, Cello und Elektronik klingt wie ein Stück von Anton Webern , das nachts von einem Geisterheer überfallen wird.
Agata Zubels Shades of Ice führen von zarten Klanggesten der Klarinette und des Cellos und ihren elektronischen Echos in ein mächtiges Rauschen, das den Hörer glauben macht, er befinde sich im Inneren eines gewaltigen Gletschers. Zubel krönt den Abend als ihre eigene Interpretin in Not I für Stimme und Ensemble: Ihr Outfit aus Lack, Spitze und Glitzer ließe Andrea Berg vor Neid erblassen, vor allem aber singt, spricht, flüstert, summt, keucht, schreit und lacht sie um Klassen besser. Der Geist des kargen Beckett-Monologs über eine verstummte, allmählich wieder zur Sprache gelangende Frau teilt sich mit starkem polnischen Akzent mit – eine überaus beeindruckende Vokalperformance. Auch der Instrumentalsatz für die sechs begleitenden Musiker wirkt famos. Wenn Zubels Stimme am Ende vertausendfacht den Raum flutet, verfliegen (wie später bei Franzsons Becken-Stück) alle Zweifel am Sinn der ständigen Live-Elektronik-Spiegelungen, die den Konzertgänger im Lauf des Festivals manchmal beschleichen; aber bei einem Wiener-Klassik-Festival hätte man ja auch nach vier Tagen den Sonatensatz über.
Schön, so Schönes aus Polen zu hören.
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