Spirituelle Bambule vom Feinsten! Alle Witze über Justin (Vorname des Dirigenten Doyle) und Biber (Name des Komponisten) sind schon vorab gerissen und jede Lästerung gelästert über den klobigen Berliner Dom, diese Riesen-SUV-Hohenzollern-Bratwurst unter den Kirchen. Jedesmal kommt im Konzertgänger auf der Spreeinsel das Gefühl auf, dass hier vor 12 Jahren das falsche Monstrum abgerissen wurde, und der heimliche Wunsch, der sich ausbreitende Spree-Biber möge mal das Holzgepfähl unter dem Dom anknabbern. Null geistliche Empfindung auch beim Eintreten, dafür stets der Blick auf die vier protestantischen Ersatz-Evangelisten Luther, Melanchthon, Calvin und Zwingli, deren Statuen vorn an der Wand protzen. Was hätte der eifernde Musikverächter Zwingli wohl zu so einem Konzert zu seinen Füßen gesagt?
Doch dass Heinrich Ignaz Franz Bibers Missa Salisburgensis ein packendes Werk ist, machen der RIAS Kammerchor und die Akademie für Alte Musik auch in der schwabbligen Akustik des Berliner Doms deutlich.
Dies irae for future am Freitagabend: Dass das Orchester des Wandels sich an die aktuellen Schülerproteste angehängt hätte, kann man allerdings beim schlimmsten Willen nicht behaupten – seit 2009 gibt es diese Initiative der Berliner Staatskapelle schon. Vorbildlich konkret ist die Arbeit ihrer Stiftung NaturTon, etwa wenn sie mit dem Verein Eben!Holz das nachhaltige Wirtschaften im Instrumentenbau fördert. Die Einnahmen des 8. Klimakonzerts nun kommen der Renaturierung eines Auenwaldes in Moldawien zugute – von dort stammt Patricia Kopatchinskaja, geigende Stargästin des Konzerts im e-werk, das auch rein musikalisch ansprechend bis produktiv quälend gerät.
Immer mal wieder die Lobcanzonetta auf den Kleinen Saal im Konzerthaus Berlin singen: flauschige Atmosphäre, behagliches Klima, moderate Preise – erstrangige Kammermusik zum Preis einer Kinokarte. Sitzt man auf den Seitenplätzen an der Wand, kann man die Füße ausstrecken. Verwunderung nur bei einigen südländischen Kulturtouristen darüber, dass man am Buffet schon 20 Minuten vor Konzertbeginn nichts mehr zu essen kaufen kann: Alles aus, tut uns leid. Kam das Konzert so überraschend, fiel ein Tasmanischer Vielfraß übers Buffet her, oder rechnete man einfach nicht mit Besuchern?
Zur Geigerin Isabelle Faust geht der Konzertgänger stets mit den höchsten Erwartungen. Aber dann werden sie doch jedesmal übertroffen.
Was für eine kunstvolle Programm-Architektur bei Faust und dem Cembalisten Kristian Bezuidenhout. Und das einen Tag, nachdem Barenboim und die Staatskapelle ihre Saison und nebenbei das Musikfest Berlin mit einem Programm eröffneten, wie man es sich schwerer (was das Werk selbst angeht) und zugleich unambitionierter (als Saison- und Festivaleröffnung) nicht vorstellen kann: nämlich Bruckner ohne alles (Tagesspiegel-Kritik).
Nun im Kammermusiksaal Bach plus Frühbarock, fast drei Stunden lang. Welche Zusammenhänge und Kontraste sich da hörend erschließen! Weiterlesen →
Es gibt nur einen Biber, und der heißt nicht Justin, sondern Heinrich Ignaz Franz. Die in Papua-Neuguinea geborene Eva-Christina Schönweiß hat in der gotischen St.-Nikolai-Kirchein der Altstadt Spandau in drei Konzerten Bibers um 1675 geschriebene Rosenkranzsonaten vorgestellt, einzigartige „Höhepunkte der Violinliteratur“ (Michael Heinemann), die kaum je gespielt werden.
Der Seltenheitswert mag auch praktische Gründe haben, denn die Saiten der Geige müssen in fast jeder der 16 Sonaten umgestimmt werden, eine nicht unerhebliche Fummelei:
Noch gravierender als die technische wird aber wohl die spirituelle Hürde sein, so dass der hoffnungsvolle Nachwuchsvirtuose doch lieber immer wieder mit den wohlig vertrauten Geheimnissen von Bachs Chaconne brilliert.
Und wirklich erfüllt Schönweiß‘ drittes und letztes Konzert am Spandauer Reformationsplatz den Tatbestand der Verführung zur Jesuitenmystik. Nach den freudenhaften und den schmerzhaften stehen am Sonntag nach Himmelfahrt nun die glorreichen Mysterien auf dem Programm: Auferstehung, Himmelfahrt, Pfingsten, Mariä Himmelfahrt und Krönung der Jungfrau.
Schönweiß, Stimmführerin der zweiten Geigen im DSO, hat sich zur Verstärkung des Continuo den Solocellisten Mischa Meyermitgebracht. An Orgel und E-Cembalo (das besser klingt, als man denken würde) ist Arno Schneider der dritte im Bunde.
Ob Meyer und Schönweiß, beide mit Barockinstrumenten und -bögen, am Vorabend bei der Alpensymphonie mitgespielt haben, mit der das DSO unter Metzmacher die Philharmonie (sicher grandios) geflutet hat? Wie nichtig scheint solche Musik angeohrs der erlesenen Rosenkranzsonaten. Auf Englisch heißen sie Mystery Sonatas, kein schlechter Titel, findet auch der Sohn des Konzertgängers und ist deshalb mit nach Spandau gekommen; zumal überdies Muttertag ist und seine Mutter seit einiger Zeit häuslichen Kult um Bibers Rosenkranzsonaten treibt. (Da ihm ein sechsstündiges Fußballturnier in den Knochen steckt, schläft er trotzdem mitten im Kommen des Heiligen Geistes ein.)
Das Violinspiel ist sicht- wie hörbar Schwerstarbeit, doch Schönweiß meistert die komplexe Aufgabe bezwingend gut und nimmt es sogar auf sich, dem Publikum aufschlussreiche Erläuterungen zu geben: etwa indem sie zeigt, dass im Auferstehungs-Mysterium d- und g-Saite überkreuz gelegt sind (siehe Nr. 11 in der oben abgebildeten Skordatur-Liste).
Trotzdem kann man sich auch einfach am geheimnisvollen, überwältigend schönen Klang der Sonaten berauschen. Andererseits wird das Verständnis dadurch erleichtert, dass Biber, für den heutigen Hörer vielleicht irritierend, seine mystischen Klangvisionen und -symbole oft in die bekannte Form barocker (Kunst-)Tänze gekleidet hat; so hören wir zur Himmelfahrt etwa eine Allemande und Courante, zu Pfingsten eine Gavotte und Gigue, zur Krönung Mariens eine Sarabande. Dazu immer wieder herrliche Arie und Canzone.
Sehr einleuchtend ist der Einfall, den religiösen Gehalt der Musik auch dadurch sinnfällig zu machen, dass Schneider auf der Orgel Abschnitte aus der Missa della Domenica von Girolamo Frescobaldi zwischen die einzelnen Sonaten stellt. Schade hingegen, dass Schönweiß aus übergroßer Rücksicht auf Publikum und Mitspieler den krönenden Abschluss des ganzen Zyklus weglässt, Bibers neunminütige, von der Violine unbegleitet zu spielende Passagalia. Aber das wäre ja in einer unbedingt zu wünschenden weiteren Aufführung der Rosenkranzsonaten nachzuholen. Denn jeder Musikliebende, der sie nicht kennt, muss sie kennenlernen; und wer sie kennt, wird sie immer wieder hören wollen.
So lange trösten wir uns mit Rosenkranzmystik aus dem Internet:
Der Homo oeconomicus tickt seltsam: Eine Frau mokiert sich über die 50-Cent-Gebühr für die Garderobe – vor einem Konzert mit einer Besetzung, für die man in Salzburg locker das Fünffache blechen würde. Aus der auf Einlass wartenden Menge, in der dutzende Menschen gedrängt stehen, ruft ein Mann: Ich stehe hier gedrängt! Antänzer sind zum Glück nur aus der Sasha Waltz Compagnie zu befürchten. Im Radialsystem V gibt sich Teodor Currentzis (den manche für ein Genie, andere für einen Hallodri halten) mit seiner Permer Originalklang-Wundertüte MusicAeterna die Ehre, aus diesem Anlass findet eine Radiale Nacht mit allem Pipapo statt, Kammermusik in allen Kammern und Aftershow-DJ.
In die Studios im 4. und 5. Stock ist schwer hochzugelangen, wer zu Panikattacken oder Atemnot neigt, sollte sich nicht ins Getümmel stürzen. Beim Recital of the Fittest in Studio C spielt der junge israelische Pianist Iddo Bar-Shai mit hoch springender Linker und quirliger Rechter Haydns geistreiche Klaviersonate Nr. 39 D-Dur im CPE-Bach-Stil. Als im Moll-Adagio zwei Tänzerinnen sich wie im Traum von ihren Sitzen erheben, schaut Bar-Shai etwas verdutzt, und Haydn klingt vertanzt plötzlich nach Schumann. Bar-Shai lässt sich davon ebenso wenig irritieren wie von den Bässen des DJ Acid Pauli, die aus Studio A herabdringen. In der Lounge kann man währenddessen Kammermusik von Mozart, Prokofjew und Steve Reich hören und dabei Bio-Buletten knabbern; wenn die Atmosphäre zu kneipig wird, gibt es zum Glück Besucher, die um Ruhe zischen.
Dicht gedrängt ist das Programm auch im Hauptteil des Programms mit Currentzis und MusicAeterna: Im Dunkeln erklingt zunächst Arvo Pärts sämig archaisierender Psalom, dessen Mystik für den Konzertgänger eher nach Vangelis als Josquin Desprez klingt, tintinnabula-Technik hin oder her. Da ist der gute alte Barockböhme Heinrich Ignaz Franz Biber doch ein anderes Kaliber! Der erste Geiger führt das Ensemble energisch und cool durch die Battalia D-Dur, ein aufregendes musikalisches Schlachtengemälde, das sich zwischendurch in ein geniales Chaos verwickelt. Das Ensemble mit Kontrabassisten in Lederjacke und orangem T-Shirt kann sich als liederliche gselschaft von allerley Humor hören und sehen lassen. Die Tänzer von Sasha Waltz haben indessen ein Plakat mit einem Zitat von David Bowie auf die Bühne getragen, dem das Konzert gewidmet ist (und nicht etwa Pierre Boulez): THE SUN MACHINE IS COMING DOWN AND WE’RE GONNA HAVE A PARTY.
Beethovens 5. Symphonie c-Moll dirigiert Teodor Currentzis dann ebenfalls im Geist einer battaglia, mit der Betonung auf con brio. Seinen weite Kreise ziehenden Dirigierstil kann man tänzerisch oder hampelig nennen, auf jeden Fall intensiv. Die Interpretation sieht allerdings extravaganter aus als sie klingt, es ist eine sehr solide Aufführung in hohem Tempo mit scharfen Akzenten, dem historischen Aufführungsstandard entsprechend, aber ohne die Differenziertheit eines Harnoncourt oder Norrington. Trotz Extrem-Fermate-Pausen gibt es doch bemerkenswert spannungsarme Übergänge bei diesem Hochdruck-Beethoven, der manchmal eher gedrängt als drängend wirkt. Dass die Waltz-Compagnie (in sehenswerten Kostümen von Esther Perbandt) die Symphonie vertanzt, ist schön anzusehen, gereicht der Musik aber nicht immer zum Vorteil: Ungebrochenes Freiheitspathos am Beginn (Hände recken sich durch Gitter), heftiges Gewirbel während der Durchführung oder ein sehnsüchtiger Blick im Andante con moto tragen nichts Erhellendes bei, sondern affirmieren die bleischweren Klischees, die diese Symphonie belasten. Gerade als man die Tanz-Choreografie als kompletten Fehlgriff abtun will, kommt es aber zu einem Clou, der alles rechtfertigt: Im Übergang vom Scherzo zum Finale mischen sich die Musiker mit den Tänzern – doch als das große Jubelfinale beginnt, erstarren die Tänzer mit konsternierten Blicken und… tanzen nicht mehr, sondern gehen umstandslos ab. Das ist ein beeindruckender Kontrast, der diese Symbiose von Musik und Tanz doch unvergesslich macht. Das Jubeln bleibt einem im Halse stecken, aber das Publikum bricht doch in frenetischen Beifall aus; was zumindest der musikantischen Wucht dieser Aufführung angemessen ist.
Gleichwohl kommt mit der Geigerin Patricia Kopatchinskaja noch ein gänzlich anderes Niveau in den Abend – und nun auch wirkliche musikalische Extravaganz. Statt Beethovens Violinkonzert spielt sie kurzentschlossen das Violinkonzert Nr. 5 A-Dur KV 219 von Wolfgang Amadeus Mozart. Currentzis brummelt irgendetwas Unverständliches in die vorderen drei Reihen, vielleicht eine Warnung vor dem, was Mozart gleich blüht. Den Eingang zum Allegro aperto spielt Kopatchinskaja mit Ultra-Flageolett, dass man einen Moment fürchtet, sie habe aus Versehen die chinesische Fabrikgeige ihrer zweijährigen Nichte mitgebracht. Auch die Kadenzen und die Übergänge zu den Ritornellen im Rondo schrubbt, knallt und fiepst sie, mal heftig, mal zart und gläsern, doch immer so bizarr, als hätte sie die Noten auf den Kopf gestellt, nach Beethovens Motto: Andersrum hab ich’s schon versucht. Das Wort Originalklang bekommt eine völlig neue Bedeutung: So hat man dieses Violinkonzert noch nie gehört. Wie keine andere Spitzengeigerin ist Kopatchinskaja bereit, schöne Stellen zu vergewaltigen; doch sie hat auch einen atemberaubend innigen Ton, etwa im melancholisch bis todtraurig singenden Adagio. Eine einzigartige Musikerin, wirklich nicht nur wegen ihrer nackten Füße.
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