Schwungvoll blühend: Korngold und Tanejew bei Spectrum Concerts

Allegorie der Kammermusik, ca. 1900

Drei Merkmale tollkühner Kammermusik: 1. Programme voller unbekannter, vergessener, verdrängter Werke, 2. Besetzungen ohne Staraufgebot, 3. dennoch ein langes Leben auch ohne öffentlichen Geldsegen. Insofern ist auch das letzte Programm der Saison ein Beweis für die hartnäckige Tollkühnheit der Spectrum Concerts: Obwohl es seit kurzem wohl einen fördernden Sockelkleckerbetrag gibt (und irgendwann auch mal wieder die zum Star gewordene Spectrum-Geigerin Janine Jansen vorbeischauen wird), ist das ein kompromissloses Programm vom Feinsten und Sinnlichsten, was die fünf musikalischen Fachkräfte da anbieten. Denn Korngold und Tanejew fegen schwerlich die Straßen Berlins leer und den Kammermusiksaal voll. Der Riesenauflauf rund um die Philharmonie gilt vielmehr Simon Rattles letztem Programm im Großen Saal. Der Konzertgänger wird von der zweiten Rattle-Aufführung am Mittwoch berichten. Denn – Tanejew geht vor.

Der Komponist zehn Jahre vor seinem Opus 15

Dem Tanejew aber geht Erich Wolfgang Korngold voraus. Der hat ein gewisses Revival erlebt, vor allem die Großschinken laufen immer wieder und mit beachtlichem Erfolg: Die Berliner Philharmoniker spielten jüngst seine Filmmusik zu Robin Hood, die Deutsche Oper feierte den Erfolg des Jahres mit dem Wunder der Heliane, und der neue Musikgeneral der Komischen Oper wird im Herbst Die tote Stadt premieren. Die Spectrum Concerts dürften mit ihrer jahrelangen Korngold-Aufführerei gewissen Anteil an der Wiederentdeckung gehabt haben. Korngolds Kammermusik bleibt dennoch programmstrategisch riskantes Terrain. Schließlich hat Korngold im berüchtigten Reclam-Kammermusikführer nicht mal einen eigenen Absatz; und Korngolds Klavierquintett E-Dur op. 15 (1920/21) sucht man auch auf der viel empfehlenswerteren Seite kammermusikfuehrer.de vergeblich.

Warum bloß? Der erste Satz mit der schönen Bezeichnung Mäßiges Zeitmaß, mit schwungvoll blühendem Ausdruck schwingt sich direkt ins Herz des Hörers und lässt es blühen und glühen. „Orchestral“ ist so eine Vokabel aus der kammermusikführenden Mottenkammer, aber um Korngolds immense Farbenpracht zu beschreiben, würde sie eben doch ganz gut passen: wenn sie nur nicht die Kammermusik als etwas Geringeres, Unvollständiges gegenüber der vollständigen philharmonischen Musik verdächtigen würde. Andererseits lobt man ja auch manche Orchesteraufführungen als kammermusikalisch. Also vielleicht mal so: Dieses fünfköpfige sinfonische Orchester aus Clara-Jumi Kang (1. Geige), Boris Brovtsyn (2. Geige), Gareth Lubbe (Bratsche), Torleif Thedéen (Cello) und Eldar Nebolsin (Klavier) lässt Korngolds saftiges Orchesterquintett vorbildlich kammermusikalisch durchhörbar klingen.

Beharrlichkeit nennt Habakuk Traber in seiner Einführung als ein weiteres Merkmal der tollkühnen Spectrum-Reihe. Dass die nächste Spectrum-Saison erst am 11. März 2019 beginnen wird, zeigt wohl ihre auch nach 30 Jahren wackligen Existenzgrundlagen. Dass aber am 24. November 2019 dieselbe Besetzung noch einmal dasselbe Quintett spielt, dürfte eben jener Beharrlichkeit und Hartnäckigkeit und Tollkühnheit zuzurechnen sein. Dann an einem reinen Korngold-Abend, von dem es anno 2019 gleich zwei geben wird.

Am gegenwärtigen Abend gabs vor dem Quintett zum Einstieg noch die Suite für Violine und Klavier aus der Bühnenmusik zu „Viel Lärmen um Nichts“, die Korngold 1918/19 zu einer Max-Reinhardt-Inszenierung schrieb. Die durch und durch unmilitärischen Erscheinungen Brovtsyn und Nebolsin lassen als Holzapfel und Schlehwein die Wache aufmarschieren. Und zum Mädchen im Brautgemach Brovtsyns kreislerschen Schmelz so unverstellt zu hören, lässt im schmeichelanfälligen Ohr einen exuberanten Blühschwung gedeihen. (Wenn Brovtsyn nur etwas leiser schnaufen würde.) Wunderbar schließlich, wie Brovtsyn und Nebolsin im abschließenden Mummenschanz ihre Instrumente drauflos tanzen lassen, wüst matrosig, aber ohne Ungefährheiten: Weniger genau könnte das ja arg rumplig tönen. Nicht so hier.

Russischer Brahms

Auch Sergej Iwanowitsch Tanejew gewährt der schlimme Reclamführer keinen Absatz, und selbst der gute kammermusikfuehrer.de widmet seinem Klavierquintett g-Moll opus 30 (1910/11) keinen Artikel.

Liest man etwas darüber, wie Tanejew in Vorbereitung jedes seiner wenigen Werke akribische Motivstudien betrieb und die Form bis in die kleinen Grundeinheiten präzisierte (Habakuk Traber), sträubt sich einem der Brahmsbart vor Ehrfurcht. Aber wie schwungvoll blüht es und wundvoll glüht es, wenn mans dann hört! Tanejew einen russischen Brahms zu nennen, geht schon in Ordnung, wenn mans ohne Spott tut. Wer Brahms liebt, muss Tanejew ehren. Schwerer romantischer Tonfall mit vertrackter Kontrapunktik, aber ohne dass es etwas Trocknes hätte. Beide Facetten durchdringen sich vollkommen.

Deutscher Tanejew

Korngolds Quintett war konzertant-theatralisch dreisätzig, das von Tanejew ist sonatenförmlich viersätzig. Allein der fast 20minütige erste Satz, ein Allegro patetico mit gewichtiger Adagio-Einleitung, entwickelt einen ungeheuren Sog: Man hört und folgt gebannt, wie sich da die ganze Zeit Variationen entwickeln und Entwicklungen variieren, auch wenn mans nicht kapiert. Der manchmal zurückhaltend wirkende Nebolsin zeigt in seinem sehr anspruchsvollen Klavierpart unerwartete Pranke, ohne sie je zu leerer Wucht zu missbrauchen. Und es ist das ganze 5köpfige Ensemble, das seine Wuchtfähigkeit in einer so dosierten, perfekt abgestuften Weise demonstriert.

Zu Beginn des Scherzo spielt das Klavier wiederholt denselben Ton, als schlüge es ein Glöckchen; das sich dann zu einem irren Schellenklirren durch alle Instrumente verflirrt. Das Largo hat einen ungemein sprechenden Beginn, der Seinesgleichen sucht: ein harsches Unisono weicht auf, bis es nur noch als sanfter Bass im Cello weiterschwingt, über dem dann eine rührend innige Geigenmelodie erscheint. Und wenn gegen Ende des Finales, nach über einer Dreiviertelstunde, das sehnsuchtsvolle Thema des Kopfsatzes wiederkehrt, in vielfacher Übersteigerung, die allein physisch für fünf Instrumente kaum möglich erscheint: dann ist das schlicht überwältigend.

Note to self: Wo auch immer dieser Tanejew gespielt wird, nicht entgehen lassen. Und wenn die Spectrum-Musiker Tanejew spielen, um jeden Preis hingehen, und sei’s am Tag der eigenen Beerdigung. Denn das war wirklich eine kammermusikalische Sternstunde, wie sie auch verwöhnte Konzertgänger selten erleben dürfen.

Weitere Kritik: Kulturradio

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2 Gedanken zu „Schwungvoll blühend: Korngold und Tanejew bei Spectrum Concerts

  1. Hört sich großartig an, vielleicht muss ich zu diesen Konzerten auch mal hin. Von Tanejew habe ich irgendeine russische, ältere Aufnahme mit 2 Symphonien, die ich in größeren Abständen sogar anhöre.
    Sie sprechen einen Grunddefekt der Konzertführer von Reclam an, über den man heute nur noch den Kopf schütteln kann. Allerdings ist zur Ehrenrettung besonders des Kammermusikführers zu sagen, dass dasjenige, das drinsteht, dann aber auch von einer Sachkenntnis und Geläufigkeit des Stils ist, die es heute kaum mehr gibt. Ich bin anlässlich des Konzerts des Vogler Quartetts im Konzerthaus wieder mit der Nase drauf gestoßen worden.
    Besten Dank für die Kritik.

    • Ja, ich kann Spectrum nur empfehlen.
      Bei den Reclamführern bin ich sehr gespalten. So gelehrt die sind, finde ich diese penible motivisch-thematische-Arbeits-Aufdröselei extrem unhilfreich, um ein Werk kennenzulernen. Andererseits, ins warme Herz der Musik soll man ja hörend vordringen, nicht lesend. Trotzdem.

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