Dirigentinnen-Alarm in Berlin! Am Sonntag wird Karina Canellakis das RSB leiten, am Donnerstag steht Mirga Gražinytė-Tyla im Konzerthaus am Pult, am 30. 10. dirigiert Oksana Lyniv die Staatskapelle. Für sie alle gilt dasselbe wie dieser Tage für Emmanuelle Haïm bei den Berliner Philharmonikerinnen (Achtung, Männer sind im ganzen Text mitgemeint): Sie ist nicht da, weil sie eine Frau ist. Vor ein paar Jahren hätte man sogar gesagt, sie sei da, obwohl sie eine Frau ist. Diese Zeiten scheinen zum Glück halbwegs vorbei, der Frauenmangel an den Pulten ist mittlerweile jedem, der kein Grauselzausel, peinlich. (Hier übrigens eine schöne Playlist von Corina Kolbe mit Aufnahmen von Dirigentinnen.)
Die Französin Emmanuelle Haïm gehört – auch dafür gebührt ihr ein Lorbeerblatt – zu denjenigen, die dazu beitragen, großen Sinfonieorchestern das verlorene Barockrepertoire wiederzuerschließen. Natürlich klingen die Philharmonikerinnen da nicht wie Haïms Expertinnen-Ensemble Le Concert d’Astrée, aber doch von historischer Aufführungsinformation hinreichend benetzt – ohne ihren fülligen, philharmonischen Klang aufzugeben. Die gar nicht so kleine Besetzung ist durch externen Blockflöter (Sébastien Marq), Lautisten (Thomas Dunford) und Cembalisten (Benoît Hartoin) punktgenau verstärkt; die Cellisten Maninger und Koncz sowie der Kontrabassist Saksala wuppen den Continuo.
Henry Purcells Suite aus The Fairy Queen nun ist in trüben Brexit-Tagen ein umso vergnüglicheres paneuropäisches, ja globales Ereignis, in dem sogar eine Chinesin namens Daphne auftritt. Dass die Berliner Philharmoniker (tja, damals noch komplett ohne Weibsvolk) die Fairy Queen 1951 mal im Jagdschloss Grunewald aufführten, ist eine schöne Nebenerkenntnis an diesem Abend. Heute ist die ausgesprochen schöne Gegend ums Jagdschloss ja nicht mehr Elfenfluggebiet, sondern (dit is Berlin) Hundeauslaufzone.
Purcells holzbläserquirlige Hornpipes aber sind echter Vibesfolk. In anderen Sätzen wird der breite, höfische, ja französische Charakter sehr deutlich, zumal in Prelude und Overture.
Das gilt erst recht für die Music for the Royal Fireworks, ein Spätwerk des erfolgreichen EU-Immigranten Georg Friedrich Händel. Noch so eine Wiedererschließung, diesmal eine persönliche für den Konzertgänger: Die Feuerwerksmusik hat er zuletzt als Kind gehört, auf einer dieser Kassetten aus der Reihe „Das Leben großer Komponisten für Kinder erzählt, mit vielen Musikbeispielen“. Dass die Philharmonie für Barockmusik zu groß sei, dafür ist dieses Werk nun kein geeigneter Beleg, 1749 soll es eine Aufführung in Vauxhall vor 12.000 Zuhörern gegeben haben. Händels eigenhändige Indoor-Fassung hat nun weniger als die damaligen 24 Oboen, leider auch keine Kanonen, aber eine einzige Réjouissance ist sie dennoch. Fehlt einem nur das Glas Crémant beim Zuhören.
Und bei Madame Haïm, die sich schon bei Purcell zwischendrin auch ans Cembalo setzt und mit Neigung zur geballten Faust und zur rechtwinkligen Armbeuge dirigiert, könnte man glatt Händel oder gar den Maître Lully dirigieren zu sehen vermeinen. Sie arbeitet freihändig, und doch könnte man sich einen Taktstock wie den von Lully vorstellen; nur bitte nicht in den eigenen Fuß taktierend, was Lully ja das Leben kostete. Haïms Taktieren mit dem Kopf, wenn sie am Cembalo spielt, kommt mit der Haarpracht erst richtig zur Geltung. Männer bräuchten da schon eine Perücke, dieses etwas deprimierende Geschlecht.
Ausnahme: der Bariton Florian Sempey! Der hat nicht nur die Finger beringt und die Baritonröhre satt, sondern auch die Haare schön. Er begeisterte bereits im Sommer als Ambroise Thomas‘ Hamlet und gibt hier einen prima Angeber-Apollo, der, als die heiße, aber tugendsame Nymphe sich in einen Lorbeerbaum verwandelt, vom geilen Bock zum empfindsamen Gärtner wird. Als der junge Händel um 1709 in Italien seine Kantate Apollo e Dafne („La terra è liberata“ HWV 122) schuf, sah er übrigens noch hübsch divers aus, fast wie Virginia Woolfs Orlando.
Sempeys Apollo zieht alle stimmlichen Register, nachdem er zuerst über das nackte Göttchen Cupido (nume ignudo) geätzt hat: flötenumsäuseltes Schmeicheln, grollendes Drohen, Mitleidheischen, am Ende rohe Gewalt. Da hetzt das Orchester die Nymphe, Violine und Fagott sausen hochelegant um die Wette – und siehe da, weg ist die Keusche. Die Sopranistin Lucy Crowe (bereits in zwei Nummern bei Purcell mit viel Lamento und scharfem Witz zu hören) ist als Dafne von Oboe und Streicherpizzicati getragen hereingetänzelt: Felicissima quest’alma ch’ama sol la liberta, superglücklich jene Seele, die nur die Freiheit liebt. Und natürlich kennt die Nymphe, wie jede Frau, diese Art männlichen Auftritt: Io son un Dio! Jaja, schon gut. Lucy Crowe, die viel, aber nicht nur Barock macht (unter Rattle war sie als Janácek-Füchsin zu hören), singt leidenschaftlich und hochtheatralisch und intervallsprungsicher, nicht frei von einzelnen schrillen Momenten, aber doch ganz vorzüglich. In den Duetten von Apollo und Dafne kommt richtiger Buffo-Schwung auf. Das macht richtig Spaß, dafür den goldenen Lorbeerkranz!
Das gleiche Programm noch zweimal am Freitag und Samstag. Am Sonntagabend musiziert Emmanuelle Haïm außerdem mit Philharmonikerinnen in kleiner Runde im Kammermusiksaal. Die Kombi Purcell/Haydn gibts übrigens auch am 14. November mit dem Freiburger Barockorchester zu erleben.