Märchenkess: Gala- und Kinderkonzerte an der Staatsoper und beim DSO

Gala, Kinder!

Jedes Kinderkonzert ist ein Galakonzert: Da wird im Publikum mitdirigiert, mitgewippt und mitgetanzt im Sitzen und im Stehen (eingeübt instruiert von der blauberockten Tänzerin Lea Hladka und ihrem Partner Christoph Viol in Rot). Und noch höher steigt der Festpegel, weil es das erste rbbKultur-Kinderkonzert seit fast zwei Jahren ist. Da war das zullende Baby, das jetzt wie ein listiges respice finem aus Reihe 17 oder 22 zu hören, als am Ende der Prinz seine schöne Aschenputtelin heimträgt, noch gar nicht geboren. Es ist Sergej Prokofjews Cinderella, die das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin (DSO) dem jungen, jüngeren und jüngsten Publikum vorstellt, klangschön und engagiert wie eh und je.

Die tänzerische, ausgesprochen sympathische französische Dirigentin Marie Jacquot, die die Suite aus Prokofjews Ballett zusammengestellt hat, fing nach ihrem ersten Kinderkonzert im Alter von zehn Jahren mit dem Posaunespielen an, erzählt sie vor dem Konzert. Mein Sohn, fünf, tendiert zum hier reichlich vorhandenen Schlagzeug: weil man da nicht üben müsse und einfach draufdreschen könne. Gut, darüber werden wir nochmal sprechen. Höchst eindrucksvoll ist es aber, wie hier die hölzerne Uhr erbarmungslos tickt und die Uhr am Tamtam zwölf Uhr schlägt – Mitternacht, Ballkleid fort, die Pferde wieder Mäuse und die Kutsche ein Kürbis (denn bei Prokofjew ist es Charles Perraults Cendrillon, nicht Grimmaschenbrödel). Musikerklärer Christian, wie stets im roten Hemd (alles wird wieder gut), erzählt die Geschichte, und die Mamas, Papas, Tanten und Onkel schwelgen mit ihren Kindern in Prokofjews farbenreichen Walzerklängen aus tiefsten Stalin-Tagen; ein Thema, das hier zu weit führen würde.

Jedes Galakonzert ist ein Kinderkonzert: Ehepaare, die gemeinsam 120 bis 150 Jahre alt sein mögen, jubeln begeistert nach jeder Bravournummer, die in der Staatsoper Unter den Linden über die Bühne geht. Spritzjugendliche Zwanzig wird das französische Musique-ancienne-Ensemble Le Concert d’Astrée, das zu den Barocktagen gerade in Berlin gastiert und darum hier anniversaire jubiliert. Zur Feier des Tages ist auch Simon Rattle da und dirigiert die Les Boréades-Suite von Rameau, eins seiner Paradestücke. Wobei ich durchaus den Eindruck habe, dass es – verglichen mit dem federnden Esprit von Marc Minkowskis Musiciens du Louvre, die hier vor zwei oder drei Jahren Rameau spielten – ein wenig unfrei forcierter, wenn nicht gar hölzerner klingt.

Aber die Sänger trägt es auf Händen, dieses französische Orchester, gegründet von Emmanuelle Haïm, die einst als Cembalistin begann und damit sozusagen im innersten Gaumen oder Kehlkopf des Barockgesangs. Ein paar Tage zuvor hat sie die Premiere von André Campras Oper Idomenée geleitet, nun ist es schön, sie mit ihrem Ensemble selbst auf der Bühne zu sehen. Ihr eigenwilliger, durchaus ulkiger Dirigierstil macht mir große Freude, ein wenig erinnern ihre extravaganten Bewegungsabläufe mich an Professor Abronsius aus Polanskis Tanz der Vampire, und dies ist als vielleicht täppisches, aber doch unbedingtes Kompliment gemeint.

Die allgemeine Wertschätzung des Ensembles beweist allein das Defilee der großen Stimmen. Nostalgischer Höhepunkt gewiss der Auftritt von Natalie Dessay mit Ombre pallide aus Alcina von Händel, dessen Werke die zweite Galakonzerthälfte dominieren. Akrobatischer Gipfel die rasanten Furie-Koloraturen von Lea Desandre aus Vivaldis Juditha triumphans ebenso wie die countertenoralen Trapezerien von Carlo Vistoli, der zuerst hereingeschlurft ist wie ein verbummelter italienischer Politikstudent, aber dann loslegt wie Hastenichgehört. Operngeschichtlicher kairos die beiden Solo-Nummern von Michael Spyres, jenem Baritenor, zu dessen Stimmkunst gerade Jürgen Kesting in der FAZ interessante historische und gesangstechnische Hinweise gab. Faszinosumst sonderbarikum das magische Stimmwesen Andrea Mastroni, der als Polyphem im Glitzerjackett Händels Fra l’ombre e gl’orrori singt. Die leidenschaftliche Lenneke Ruiten ist dabei, der maskuline Jarrett Ott, die vorzüglichen Emmanuelle de Negri und Mathias Vidal. Marie-Claude Chappuis singt Purcells Dido-Lamento, zu Beginn der zweiten Programmhälfte, zwischen Rameau und Händel, nun gut, das sind die etwas unvornehmen Programmdramaturgien, die solchen Galas auch stets eignen. Mit Eva Zaïcik, Victor Sicard und  Tassis Christoyannis (Idomenée) sowie Laurent Naouri (Hippolyte et Aricie) sind auch Sänger aus den aktuellen Aufführungen bei den Staatsopern-Barocktagen dabei.

Die Wunderbarste, Herrlichste von allen aber ist Sandrine Piau, die flötenumrankt Rameau singt (Viens Hymen), in einer Perfektion und zugleich Natürlichkeit, dass man den Atem anhält, und violinbeschmeichelt die Arie der Schönheit aus Händels Il trionfo del Tempo e del Disinganno.

Also, das ist wirklich Gala, gratulativst, da werden auch vereiste, vergreiste zu kindlichen Herzen. Meine Frau aber möchte trotz des spektakulären Stimmen-Auflaufs vor allem „die Augen des kessen Paukers küssen“, eines wundersam gedrungenen Mannes mit langem schwarzen Strähnhaar, Windmaschinist überdies. Daheim hat sie ihn – Sylvain Fabre – gleich auf Youtube gefunden:

Zum DSO-Kinderkonzert / Zur Concert d’Astrée-Gala

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