Mozart kannte den älteren Neptun-Schocker von André Campra vermutlich nicht (nur sein Librettist Varesco verwurstete das französische Textbuch), also muss man auch nicht den Idomeneo kennen, um Campras Idomenée zu sehen. Der brutale Schluss zu eleganten Klängen dieser Barockoper, die jetzt Premiere an der Staatsoper Unter den Linden hatte (vermutlich die deutsche Uraufführung überhaupt), knallt hart, auch wenn man nicht weiß, dass er das Gegenteil des Mozartschlusses ist.
An diesem Schluss gewinnt auch die grundlegende Regie-Idee von Àlex Ollé (Teil des La Fura dels Baus-Kollektivs) Plausibilität: nämlich die Götter-Ebene, die in Campras Roi du Soleil-Welt noch theatermodisch die Bühnenbretter bevölkert, psychologisch zu internalisieren. Spiegelbilder. Die Nemesis, welche dem Kreterkönig Idomenée die finale böse Tat gebieterisch einflüstert, sieht exakt so aus wie der Beflüsterte. Auch Neptun, der Meeresgott, dem der aus Seenot gerettete Idomenée einen fatalen Schwur geleistet hatte, gleicht dem unglücklichen Protagonisten. Die Götter sind innere Projektionen traumatisierter Menschen. Am tragischen Schluss der Oper leuchtet das heftig ein.
Vorher allerdings nicht durchgehend. Zum Glück sind aber die Stimmen der Menschen und Götter (bei durchgängig hohem sängerischen Niveau) so deutlich unterscheidbar, dass es zu keiner heillosen Konfusion kommt, weil sie nun mal gleich angezogen sind. So trägt die Venus der vorzüglichen Mezzosopranistin Eva Zaïcik mal die nämliche schwarze Kleidung wie die kriegserbeutete trojanische Prinzessin Ilione, die von Chiara Skerath mit (anfangs vielleicht allzu) emotionsbebendem Sopran, später auch mit feinen leiseren Tönen gesungen wird, und ein andermal dasselbe weiße Kostüm wie die schön schreckschraubig beginnende und später sich ausdifferenzierende Sopranistin Hélène Carpentier als Électre. Aber einen eigenen Look hat sie niemals, die Göttin Venus. Das so warme wie machtvolle sonore Baritontimbre des eindrucksvollen Hauptdarstellers Tassis Christoyannis, der trotz optischer Gleichmacherei bestimmenden Bühnenerscheinung, differiert erst recht erheblich von der Stimme des ihm gleichenden Yoann Dubruque, dem ein wenig die Natur- bzw Göttergewalt abgeht. Anders als der, auch gleich aussehenden, Némésis von Victor Sicard, einer der stärksten Nebenrollen an diesem Abend. Der Tenor des Königssohns Idamante aber (Samuel Boden) schwebt rein und pur leuchtend über allem; was ihn, der allen nur Gutes will, zum natürlichen Opfer macht. Zumal in der zweiten Hälfte ist Bodens Darstellung des unglücklichen, alle liebenden Idamante ausgesprochen berührend.
Dennoch ist mit dem nivellierenden Klamottenkniff doch ein nicht unerheblicher Verlust an Bühnenwirksamkeit verbunden, trotz des Schlussclous. Das fällt auch deshalb ins Gewicht, weil vermutlich keine Sau im Saal André Campra kennt, der am Hof des Sonnenkönigs reüssierte. Musiktheatergeschichtlich ist das tragédie lyrique zwischen dem Lully von gestern und dem Rameau von morgen, aber das sind eben Abstufungen, die schwerlich einen 1300-Plätze-Saal enthusiasmieren, auch wenn gewiss einige connaisseurs der Barockoper à la française darunter sind. Jedenfalls ist hier nicht wie beim fernen Händel Arie um Arie um Arie (und dazwischen Arie) zu erleben, sondern es gibt – sehr willkommen – schön echoende Chöre und auch diverse Divertissements mit Chor und Tanz. Die sind keineswegs nur Sättigungsbeilagen, sondern recht gut in die Handlung integriert. Das alles ist aber doch auch nötig, denn Händels melodischer Einfallsreichtum ist ebenfalls fern. Es sprudelt zwar alles recht schön und anmutig, und das Werk wirkt in dramatischer Hinsicht ziemlich organisch; aber eklatante Ohrwurmgefahr herrscht nicht gerade.
Aber no front bzw pas de devant, es sind zu dieser Eröffnung der Staatsopern-Barocktage viele hochkultivierte Franzosen im Haus (nebst dem Ehepaar Rattle, das mit zwei Berliner Spitzen-Grünen und sieben anderen Personen auf jenen exakt elf geräumigen Plätzen sitzt, die es in der Lindenoper gibt, im ersten Rang). Gerade nach Angela Merkels tränen- und weinseligem Abschiedsbesuch in Burgund wollen wir keineswegs die raren Perlen der französischen tragédie en musique irgendwie madelig machen. Es ist unaufdringliche, zartreizende Musik in diesem Werk, das am Hof des Sonnenkönigs seinerzeit Erfolg hatte; und hörte man es öfter, würde man sich gewiss hörend selbst entgroben und mitverfeinern. Was auf den hörenden Anhieb deutlich wird: Außer den Chören sind die teils ausgiebigen, sehr differenzierten Rezitative ein besonderer theatralischer Reiz. Ein Höhepunkt gegen Schluss – in der insgesamt peppigeren zweiten Hälfte des Abends – ist die ergreifende „kirchenmusikalische“ Gebetsszene von Idomenée und den Priestern.
Die Fura dels Baus-Inszenierung ist gediegen, nicht rundherum ein Ärgernis, aber doch alles andere als ein vulkanischer Ideenborn, öde Routine, hilft dem Drama jedenfalls nicht gerade auf die Sprünge. Wenn Figuren oder Statisterie sich immer wieder an- und ausziehen, ist das auf Opernbühnen stets ein Warnhinweis auf akute inszenatorische Surrogaterie. Die schlappe Personenführung ist auch ein handwerklicher Mangel, der immerhin von der Compagnie Dantzas halbwegs herausgerissen bzw herausgetanzt wird. Ansonsten sehen die Produktionsfotos entschieden aufregender aus als die etwas beliebige Bühnenwirklichkeit mit obligatorisch flirrendem Videokrims allerlei (das liegt nahe) Spiegeln, und mehr noch wackelnden Plexiglasscheiben, die den ulkigen Effekt haben, dass die Dirigentin immerzu als Spiegelgespenst auf der Bühne anwesend ist; jedenfalls vom ersten Rang aus.
Das ist aber insofern okay, als Emmanuelle Haïm ja nun auch die Meistergehirnin des Ganzen ist. Nicht nur war sie schon an der Ausgrabung von Campras vergessener Oper durch William Christie 1992 beteiligt, auch der Rekonstruktion und kreativen Ergänzung (hier geht es vorwiegend nach der veränderten zweiten Fassung von 1731, neunzehn Jahre nach der Pariser Uraufführung). Sie ist auch die Gründerin des Orchesters LE CONCERT D’ASTRÉE, dessen Bestandteil der schon kurz erwähnte, hervorragend klingende Chor ist. Haïms Dirigat ist von energieberstender Eckigkeit, streng abgezirkelter Dranghaftigkeit. Das wirkt seltsamerweise gleichermaßen steif wie explosiv; und dito klingt das Orchester gelegentlich starr, und insgesamt doch bemerkenswert farbenfroh. Besonders die Traversflöten treten immer wieder innig hervor, auch die Gambe. Und neben Sturm- und Donnermusik und rasselnden Ketten im Orchester gibt es auf der Bühne selbst auch den französischen Hofdudelsack zu bestaunen, die Musette de Cour. (Die gängige Übersetzung „Sackpfeife“ klingt hierzustadt zu arg nach Berliner Kosewort für einen rivalisierenden Verkehrsteilnehmer.)
Eine regelrechte Campra-Mode wird auf den Bühnen der Welt wohl nicht ausbrechen, aber es ist bar allen Spektakels eine solid interessante Angelegenheit. Viermal gibt es im November Campras Idomenée noch – auch nach Abschluss der damit eröffneten Barocktage, die bis zum 14. November dauern.
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Aus dem 2. Rang war es für mich unangenehm, ständig die nackten Arme der Dirigentin beleuchtet zu sehen, anstrengend die fast immer dunkle Bühne.
Die Arme haben mich weniger gestört (find es sogar schön, wenn eine Dirigentin Abendkleid trägt – mal was anderes als die ewigen schwarzen Dirigentenärmel). Die permanente Dunkelheit der Bühne ist aber in der Tat anstrengend und ermüdend. Mag ja aus dem Konzept Sinn ergeben, aber ist ohne oder sogar gegen das Publikum gedacht.