Scheiterenthäufend: „Neue Szenen“ an der Deutschen Oper

Das Kernrepertoire teilt seine Bühne mit der Gegenwartsoper (Symbolbild)

Vom Martinsfeuer am 11.11. gehts direkt an den Scheiterhaufen. Oder die Scheiterhaufen, gleich drei; wobei die eh nur als Ausgangspunkt einer Ausschreibung fungieren, höchstens als sehr ferne Assoziationszusammenhänge. Drei neue, kurze Musiktheater sind unter diesem Titel in der Nebenbühne Tischlerei der Deutschen Oper Berlin zu besichtigen und behörigen. Premiere war am 5. November, Derniere zu St. Martin. Dabei scheint das Assoziative zugleich Stärke und Schwäche dieser jungen Gegenwartsmusikdramatik zu sein.

Stärke, weil das Assoziative zu drei sehr gegensätzlichen Ansätzen führt (keiner hat wörtlich etwas mit „Hexenverfolgungen“ zu tun). Schwäche, weil da halt alles mit allem zusammenhängt, was sich dann natürlich auch in die weidlich berüchtigten verplapperten Exposé-Seligkeiten der Gegenwartskunst ergießt. Zum Glück ist auf der Bühne aber viel mehr unmittelbare Plausibilität zu erleben als im Theaterbegleitfaltblatt.

Hervorgegangen sind die drei Uraufführungen aus einem Wettbewerb der Hochschule für Musik Hanns Eisler, zu dem 26 Bewerbungen eingereicht worden waren. Schon zum fünften Mal finden diese verdienstvollen Neuen Szenen an der Deutschen Oper ins Bühnenleben. Trotz der pflichtbewussten jährlichen „großen“ Uraufführung in diesem Haus oder auch an der Lindenoper ist ja an der Diagnose des seit etwa 1950 erstarrten Repertoires nicht zu rütteln. Wobei man schon fragen kann, ob die Kausalität hinreichend erfasst ist, wenn Professor Claus Unzen von der HfM schreibt:

Da im Verhältnis zum Kernrepertoire auch im 20. Jahrhundert relativ wenig Werke zur Uraufführung gelangten, fanden daher auch nur wenig Musiktheaterstücke Zeitgenössischer Musik Eingang in das Opernrepertoire.

Wenn man regelmäßig an den wenigen Uraufführungen teilnimmt, können einen schon Zweifel befallen, ob die Repertoire-Eingangsquote wesentlich höher läge, wenn einfach mehr solcher Novitäten auf die Bühne kämen. Oder ob nur der Scheiterhaufen im Sinne von Haufen des Gescheiterten wüchse. Bei den Kompositionsaufträgen für Riesenbühnen wie die im Vorderhaus an der Bismarckstraße scheint manchmal die simple Frage aus dem Blickfeld zu geraten, ob einige tausend Menschen übers Fachkollegentum hinaus zu dem Eindruck gelangen können: Ja, dieses Drama, diese Musik geht mich an. Die Komponistin Chaya Czernowin etwa, die der Jury des aktuellen Neue Szenen-Wettbewerbs vorsaß, ist eine fantastische Musikerin, von der ich im Konzertsaal schon großartige Kompositionen gehört habe. Ihre faszinierend versponnene, intime Oper Heart Chamber aber, die 2019 an der Deutschen Oper uraufgeführt wurde, schien mir für die große Bühne kaum geeignet, für einen Saal mit zweitausend Plätzen immerhin. Das kann nichts werden mit Repertoire, auch wenn man zehnmal so viel davon uraufführen würde.

Umso erfreulicher: Jedes der drei vorgestellten Stücke hier – von insgesamt zwölf jungen Künstlerinnen und Künstlern (je dreimal Komposition, Libretto, Inszenierung, Dramaturgie) – hat seine eigenen Kraftzentren. Kein Mythos ist seinen Figuren am nächsten, es ist bei aller Kunstfertigkeit am direktesten, auch am anrührendsten. Haut scheint das ausgefeilteste, strengste, ästhetisch stringenteste Werk (bezeichnenderweise ist es das einzige, das auf eine Video-Ebene verzichtet). Und unser Vater | Vater unser ist das wüsteste und mit seinen plakativen Kontrasten bühnenwirksamste.

Demonstration von Opernfreunden für die Erweiterung des Kernrepertoires

Dorian Brunz schrieb den Text für Kein Mythos, dessen Schwachstelle vielleicht der Titel ist, weil er eine eigentlich nicht nötige Meta-Ebene (die unglückliche Liebe von Pyramus und Thisbe) über seine Figuren stellt: zwei lesbische Frauen, die sich zu DDR-Zeiten nicht lieben durften und später an einem Flughafen dem Was-hätte-sein-können nachsinnen. Clara Maria Kastenholz und Constanze Jader geben auf knappstem Raum dem Seelenleben dieser beiden Frauen erstaunlich tiefe Facetten. Durchdacht, höchstens beinah zu zurückhaltend wirkt die Komposition von Sara Glojnarić, immer wieder stehend, von verhaltenen Eruptionen, verfremdet auch durch einen Vocoder, der neben Streichquintett und Schlagzeug im von Christian Schüller geleiteten Ensemble zum Einsatz kommt. Ebenso verzichtbar wie die mythische scheint hingegen auch die brechende Reflexion auf der Video-Ebene mit Meerlandschaft und billigem „Lesbenporno“, der das Publikum wohl mit seinen (unterstellten) Vorstellungen von Frauenliebe konfrontieren soll. Das trägt nichts bei, nimmt aber immerhin auch nichts weg vom Anteil, den man an der traurigen Geschichte der beiden nimmt, die hier in ansonsten konzentrierter Kürze Musiktheater wird.

Die tuschelnden Trippelbienen in Weiß, die zu Beginn von Haut hereinkommen, sind bereits ein Lacher beim Publikum und ein Qualitätsnachweis der Regie von Andrea Tortosa Baquero, wie auch die Kostüme höchst gelungen sind, kuriose und zugleich enigmatische Imkerrüschendessous. Die Geschichte um die Auflösung einer Frau bleibt dagegen trotz der Körperlichkeit ungreifbarer. Doch sie profitiert von der starken Choreografie, auch in klanglicher Hinsicht (Komponist Lorenzo Troiani): etwa wenn das „konsonantische“ Hereintrippeln der weißen Bienen in „vokalisches“ Atmen und Hauchen übergeht. Klang wie Figurenbewegung weiten den Bühnenraum. Die elektronische Ebene ist sinnvoller Bestandteil der Musik, kein Selbstzweck. Anders als das erste Stück zieht es sich allerdings gegen Ende doch etwas.

Verglichen mit den ersten beiden, auch in den krassen Momenten feingestrickten Stücken ist die Kammeroper unser Vater | Vater unser des Komponisten Sergey Kim und des Librettisten Peter Neugschwentner eine richtige Räuber- bzw Satanspistole, auch in musikalischer Hinsicht. Hier ergibt auch die Video-Ebene (wie in Kein Mythos Brian Andrew Hose) Sinn, weil aus ihr die übergeordnete Vaterdiktator-Instanz erscheint – musikalisch in Form eines nervig tonalen Eso-Chorals (Meine Töchter sind keusch und sauber). Flirrend und hibbelig dagegen das Durcheinander der bis zur Deformation dressierten Töchter, aus deren Gewimmel Dialoge aufklingen wie:

Netflix hat kein Porno.

Dann will ich Satan

– der dann auch effektvoll auftritt, der luzifleischgewordene Vater (Daesoon Kim), gegen den sich zwei Töchter (Felicia Brembeck und Liudmila Maytak) erheben, und … nun ja, Satanspistole. Das ist stellenweise furchtbar trivial, sehr irre, aber es hat wirklich Power und ist von einnehmender Anarchie.

Drei sehens- und hörenswerte Stücke, jedes charakteristisch. Vielversprechend, nennt man sowas wohl. Die unterschiedlichen Vorzüge der drei Werke irgendwann in einem vereint, denkt man gar: Da könnte gar mal was ins Opernrepertoire eingehen.

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