Trosthoffend: Berliner Neujahrskonzert in der Philharmonie

In Wien ist bekanntlich alles feiner als in Berlin, vom Dialekt bis zu den Radwegen; allein die Neujahrskonzerte sind, seien wir ehrlich, hierzustadt besser. Dank der seit Jahren bewährten Alliance von RIAS Kammerchor und Akademie für Alte Musik!

Zugegeben, man hat hier schon originellere Neujahrsprogramme gegeben als heuer. Aber Georg Friedrich Händels Messiah ist nie falsch. Gerade zu diesem Termin: ein Werk, das mit dem göttlichen Pardon aller Missetaten einsetzt, das passt doch zu unseren guten und dabei stets den Binsen geweihten Vorsätzen. Mit dem Vorsatz „Öfter Oratorien hören“ gehts ja los. Wer guten Gewissens behaupten kann, dass ihm niemals bei einem Messiah die eine oder andere Arie zu viel wurde (gerade im II. Teil), der werfe den ersten Böller.

Andererseits ist man ja nach etwaigen Hörhängern desto entzückter, wie dramatisch gewieft Händel im III. Teil nochmals Reiz um Reiz drauflegt: die prominente Rolle der Trompete etwa, die Ute Hartwich in der Arie The Trumpet Shall Sound wunderbar bläst, den warmen und differenzierten und auch im Ernst stets freudevollen Bass von Roderick Williams noch veredelnd. Oder diese äußerst wirkungsvollen a cappella-Verse Since by man came death und For as in Adam all die, mit denen der Kammerchor uns den Atem stocken lässt und uns zugleich im Herzen erlösungsempfänglich macht. Oder die beiden besonders innigen Arien, mit denen Julia Doyle in diesem III. Teil hervortritt. Die Sopranistin hat wohl das schwierigste Viertel im vorzüglichen Sängerquartett, weil sie anfangs so elend lange zu warten hatte, um dann gleich himmelsgleich einsetzen zu müssen.

Entzückt ist man auch von dem beschwingten, federleichten, oft tänzelnden Ton, mit dem der RIAS Kammerchor singt und die Akademie für Alte Musik spielt; unter der trefflichen Leitung von Justin Doyle, der zwar ersichtlich Chorleiter und nicht Orchesterdirigent ist, aber so ein Stück wuppt Akamus schon von selbst hinreichend konzid-luzise oder wie das heißt. Außerdem sieht das alles einfach toll aus: dieses alphornlange alte Kontrafagott zum Beispiel, das wie die Haubitze eines Extremfeuerwerkers wirkt. Aber nicht so klingt, natürlich. Oder die kundige Laute von Miguel Rincón Rodriguez, den man sich rein optisch auch mit Gitarre im Mauerpark vorstellen könnte, die krault uns hier den verkaterten Seelennacken.

Akkuratesse, Klangsinn und Textklarheit des Rias Kammerchors aber haben neujahrsläuternde Kraft. Verblüfft ist man, wenn die Stimmen im einschlägigen Hallelujah ein luftiges Tänzchen wagen und die Trompeten dazu duftig tupfen. Man hat das ja von andernorts, anderntags noch eher in der Manier einer Champions-League-Hymne im Ohr.

Höchstens, dass man sich dies und das doch physischer, erdiger wünschte, etwa in den Passionsszenen im II. Teil. Dieser Umschlag gelingt Thomas Hobbs (dessen Tenor zu Beginn des Messiah mit engelskeuscher Reinheit herniederstieg) überzeugender als dem Altus Tim Mead, dessen shame and spitting im etwas schmerzlosen Bereich bleibt. Vielleicht hing da aber auch bloß gerade Ohr & Herz des Hörers, denn Meads Klasse steht außer Frage. In allen mystischen Facetten lässt er jedenfalls keinerlei Wünsche offen. Dass eine Jungfrau von einer solch celestinen Stimme schwanger werden kann, glauben wir sofort, wenn wir Mead hören: Behold, a virgin shall conceive and bear a son…

Mit den Worten … rettet von Sünd und Tod, dem letzten Vers der Es ist ein Ros entsprungen-Zugabe, entlässt uns der Kammerchor in die feinstaubgesättigte Berliner Neujahrsnacht. Später werden wir grauenhaft Apokalyptisches lesen von australischem Waldbrand-Inferno und von im Silvesterfeuer bei lebendigem Leibe verbrannten Menschenaffen in Krefeld. Und da sind wir dankbar für die zuvor gehörten tröstlichen, hoffnungsvollen Verse, denn des Trosts und der Hoffnung bedarf auch dieses neue Jahr, gleich am ersten Tag.

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