Begegnungen in Teheran

Gebrochene Biographien, trotzige Zuversichten – jede Seele eine unsichtbare Stadt. Bericht von einer Reise im Herbst 2019, in unruhigen Zeiten.

Schon die Uhr zeigt an, dass diese Reise um einen Knick führt. Auf dem Flug von Istanbul nach Teheran verstellt sie sich um eine halbe Stunde. Diese Zeitverschiebung in Brüchen passt. So wie es auch ganz logisch scheint, was wir später im Iranischen Teppichmuseum lernen werden, einem von der letzten Kaiserin (Schahbanu) entworfenen flachen Betonbau, dessen Pfeiler in brutalistischer Eleganz Kett- und Schussfäden eines Webstuhls nachahmen: Die türkischen Teppichknoten sind symmetrisch, die persischen aber asymmetrisch. Im Flugzeug wird die Verschiebung sichtbar, als weit nach Mitternacht, bei der Ankunft auf dem Flughafen Imam Khomeini, die Lichter an Bord wieder angehen. Auf einmal sind die zuvor noch offenen Haare der Frauen bedeckt.

Zumindest die Hinterköpfe. Der Schleier sitzt weit achtern. Ein französischer Avantgarde-Trompeter aber hat während des Flugs konzentriert Italo Calvinos Le città invisibili gelesen. Teheran ist eine asymmetrische Stadt, gelegen am Knick von Sichtbarem und Unsichtbarem.

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Die Musik aber gelangt geschmeidig um alle Biegungen, Ecken und Falten. Fozieh Majd heißt die Grande Dame der iranischen Gegenwartsmusik, eine charmante Frau von 81 Jahren, die vor langer Zeit bei der legendären Nadia Boulanger in Paris studierte. In Majds Stück Ballad for Seconds beginnt die Flöte mit einer kleinen Figur aus drei Tönen, die von Klarinette und Geige aufgenommen wird – ehe die persischen Instrumente Tar und Setar einsetzen, zwei Langhalslauten aus Maulbeerbaumholz, ein hypnotisch silberraschelndes Pulsieren, das die europäischen Instrumente in eine andere Sphäre trägt.

Die Aufführung von Majds kurzem Werk ist Teil der Tehran Contemporary Music Days, die eine Art Rückspiel zu mehreren Konzerten in Berlin sind. Es gibt hier Diskussionen und Workshops für Instrumentalisten und Komponisten, und bei den Aufführungen in der Rudaki-Halle und dem Konzertsaal der Teheraner Universität sind jeweils einige hundert Zuhörer anwesend. Kein staatsaffärlicher Massenandrang, aber großes Interesse. Die umtriebige Neue-Musik-Combo ensemble unitedberlin, deren Artistic Advisor der (hier unbeteiligte)  Dirigent Vladimir Jurowski ist, hatte für das über drei Jahre laufende Projekt eine Reihe von Arbeitsaufträgen an iranische Komponisten aus verschiedenen Generationen erteilt. Wobei zwischen den Geburtsjahren 1952 und 1976 eine bezeichnende Lücke klafft. Hier die Großväter und –mütter, dort die Enkeltöchter und -söhne.

Drei dieser Enkel sind es, ohne die bei diesem Projekt nichts laufen würde: die gelehrte Komponistin Sara Abazari, die an der Universität Wien eine ergiebige Dissertation über 150 Jahre Musik und Macht im Iran verfasst hat und heute als Dozentin mit Teheraner Studenten Anton Webern analysiert; der seit zwölf Jahren in Deutschland lebende Komponist Ehsan Khatibi; und der herzenswarme Mehdi Jalali, Enddreißiger, ein Setar-Virtuose mit langem Bart und schütterem Zopf, halb weiser Schrat vom Berge, halb frühergrauter persischer Junghippie. Yarava heißt Jalalis flexibles Ensemble aus jungen Musikern, das hier zum Partner der Berliner Neutöner wird. Ein Miteinander, das nicht immer reibungslos verläuft. Die deutschen Musiker sind es schließlich gewohnt, mit ihren Proben auf die Minute pünktlich zu beginnen, statt erstmal auf etwelche Umbauten zu warten. Die Iraner sind ihrerseits durchaus beeindruckt von der hohen rhythmischen Präzision der Berliner Dirigentin Catherine Larsen-Maguire. Weich schwingend scheint die Rhythmik der Iraner, im Gespräch über die Unterschiede wird die Differenz von beat und pulse vorgeschlagen. Larsen-Maguire aber stöhnt einmal über die Einschränkungen ihres Sichtfelds und Gehörs, die der bei offiziellen Auftritten unvermeidliche Schleier mit sich bringt.

Großeltern und Enkel also – die Mütter und Väter aber fehlen der iranischen Musik. Denn die sogenannte Islamische Revolution von 1979 war auch musikalisch eine Zäsur. Eine Zeitlang war die Musik (ausgenommen religiöse Musik und Revolutionslieder) sogar verboten. In seinen Erinnerungen an Teheran 1979 mit dem Titel Der standhafte Papagei gibt der Schriftsteller Amir Hassan Cheheltan wieder, was der Ayatollah Khomeini damals in einem Radiogespräch erklärte:

Zu den Dingen, die unsere Jugend irreleiten, zählt die Musik. Musik, sofern man ihr länger zuhört, bewirkt, dass das menschliche Gehirn inaktiv wird und in eine unechte Welt gerät.

Was Khomeini (dessen so finsterer wie charismatischer Blick einen in dieser Stadt überall trifft, von Wandmalereien, Heldenreliefs, Ölporträts) als Verrat am Volk sah, das könnte man auch für eine Lobpreisung der Musik halten: das Geraten in unechte Welten. Als unwirkliche Welt erscheint uns Westlern aber manchmal auch dieses Teheran des Jahres 2019 mit seinen unendlich liebenswürdigen Menschen, dem bizarr chaotischen Verkehr und der nasenhaarsträubenden Luftverschmutzung (in Peking habe man weit besser atmen können, erzählt ein Berliner Flötist). Die größte Asymmetrie ist gewiss das krasse Nebeneinander von so hipper wie gebildeter Jugend einerseits und hinterweltlerischem Gottesstaat andererseits. Die Zeiten lappen hier über-, in- und gegeneinander. Freilich, das Revolutionsjahr 1979 war ja nach dem iranischen Kalender 1357; und im abendländischen Jahr 1357 wurde in Prag der Grundstein zur Karlsbrücke gelegt und im Hundertjährigen Krieg ein ziemlich folgenloser Waffenstillstand vereinbart. Es war die Zeit, als auf Handelsschiffen aus Asien die Pest nach Europa gekommen war und im Gefolge der Seuche die religiöse Inbrunst wuchs, auch der Fanatismus.

Vor der Revolution hatte es im südiranischen Schiras ein Festival für Moderne Kunst gegeben. Die Erz-Avantgardisten Karlheinz Stockhausen und Iannis Xenakis waren damals im Iran, John Cage, Merce Cunningham oder Peter Brook. Auch dieses Festival ging, wie das Teppich- und andere Museen, auf eine Initiative der kunstliebenden Schahbanu Farah Pahlavi zurück. Und natürlich haben die iranischen 1970er Jahre mit ihrer großen Entschleierung etwas von toxischer Weltoffenheit: diese rasante Modernisierung durch das unterdrückerische Schah-Regime. Von westlichen linken Künstlern wurde das Festival damals ebenso kritisiert wie von konservativen Mullahs; wenn auch mit grundverschiedenen Zielen.

Obwohl bald nach Khomeinis Bann der unechten Welt zumindest die „traditionelle Musik“ wieder hörbar wurde, blieb experimentelle, avantgardistische Musik ein Ding der Unmöglichkeit – bis in die 90er Jahre. Damals kehrte der 1940 geborene Komponist Alireza Mashayekhi nach Teheran zurück, den man wohl als den Übervater der neuen iranischen Musik bezeichnen kann und der bei den Contemporary Music Days mit mehreren Werken vertreten ist. Seine Enkel klingen anders, für westliche Ohren wohl aufregender, komplexer. Schon die Titel einiger Stücke verraten, dass die iranische Gegenwartsmusik dem Wesen nach grenzüberschreitend ist. Die in Frankfurt lebende Elnaz Seyedi, die früher in Teheran Informatik studierte, hat ihre Komposition zwischen[t]räume genannt, ein Titel wie erfunden für die Teheraner Unsichtbaren Städte. Der heute in Düsseldorf und Berlin lehrende Ehsan Khatibi hat gar ein deutschbürokratisches Wortungetüm zum poetischen Titel erkoren: diesbezüglich heißt sein Stück für elf Instrumente. Wie dieses Wort wohl für Teheraner Studenten klingt? Dass ausgerechnet während Khatibis so raffinierter wie über weite Strecken sehr leiser Musik jemand eine krampfhafte Hustenattacke bekommt, beweist jedenfalls, dass die psychobronchialen Mechanismen bei iranischen Zuhörern dieselben sind wie beim deutschen Publikum.

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Zwölf Jahre hat Khatibi den Iran nicht mehr betreten, seit er zum Studieren an den Rhein zog. Nicht die Angst vor persönlichen Repressalien hielt ihn so lange von der Rückkehr ab, sondern ein sich immer tiefer spaltendes Verhältnis zur geliebten Sorgenheimat. Schon die Millionenproteste der „Grünen Bewegung“ nach den mutmaßlichen Wahlfälschungen im Jahr 2009 bekam Khatibi nur aus der Ferne mit. Jetzt ist er, als Organisator des Festivals und als Komponist, wieder da und erkennt sein Teheran manchmal kaum wieder – und zwar im Guten: All die schönen Cafés mit gehobener Barista-Kunst etwa in der Enghelab- oder Valiasr-Straße, die gab es früher nicht. Und Khatibis alter Teheraner Freund, den ich in einem dieser Cafés kennenlerne, mutmaßt, man profitiere vielleicht sogar von den weltpolitischen Machtkämpfen des iranischen Regimes. Denn weil so viele Kräfte nach außen gebunden seien, habe der Kampf nach innen nachgelassen, seien die Zügel lockerer geworden.

Überrascht sind auch wir Iran-Neulinge: Das erste Restaurant, auf das eine deutsche Freundin und ich in einem atmosphärischen Park voller angerosteter Sportgeräte und moderner Statuen stoßen, stellt sich als veganes Künstlerlokal heraus. Und so gibt es zu unserem ersten Teheraner Mittagessen, wer hätte das gedacht, Kebab aus würzig-säuerlich eingelegten Weizenproteinen, fast als wären wir im Prenzlberg. Auf Bänken und im Gras sehen wir einige junge Frauen, bei denen der Schleier nicht einmal, wie sonst, weit hinten sitzt: Sie haben ihn in demonstrativer Entspanntheit ganz abgelegt. Immer wieder werden wir in Teheran solche – meist sehr jungen – Frauen ohne Kopftuch sehen, auf Straßen, in Parks und Cafés und auch im Hochgebirge im Norden der Stadt. Manch eine bewundernswert mutige Teenagerin hat deshalb, so hören wir, schon Nächte auf der Polizeistation verbringen müssen. Wo wir die unverschleierten Frauen sehen, auch in vollgequetschten U-Bahnen oder auf trubeligen Einkaufsstraßen, nimmt niemand (offen) Anstoß.

Um die Ecke des veganen Lokals liegt ein Museum der besonderen Art: das Den of Espionage, die ehemalige US-amerikanische Botschaft, die einst von Studenten im revolutionären Rausch vierzehn Monate lang besetzt gehalten wurde. Spukhafte Agitprop-Graffiti bedecken die Außenmauern. Die englischsprachige Führung aber, die uns gleich angeboten wird, ist bemerkenswert frei von Propaganda, dafür komplex und differenziert. Der Führer schaut mit distanziertem Historikerblick auf die Ereignisse und macht aus seiner Sympathie für die iranische Reformbewegung keinen Hehl. Damit hätten wohl selbst die Teheraner, die wir später rund ums Festival treffen, kaum gerechnet. Sie wirken nämlich geradezu schockiert darüber, dass wir ausgerechnet diese Gedenkbrutstätte des revolutionären Mythos besucht haben. Es gebe doch so viel anderes hier! Und sie empfehlen uns Basare, Museen, Paläste. Die wir natürlich auch alle besuchen.

Das Fortgehen ist hier ein unerschöpfliches Thema. Jeder, so scheint es manchmal, will weg. Millionen Menschen haben das Land in den letzten vierzig Jahren verlassen. In einem der schönsten iranischen Romane, die ich in Vorbereitung auf die Reise gelesen habe, Fariba Vafis Kellervogel, wird das Fortgehen zum Leitmotiv: Immerzu spricht der Ehemann der namenlosen Ich-Erzählerin vom Paradies namens Kanada – um schließlich allein in Baku zu landen und aus Sehnsucht bald wieder zu seiner (alles andere als harmonischen) Familie zurückzukehren. Die Frau, eine auf sanfte Weise gnadenlose Beobachterin, will nämlich bleiben, wo sie ist. Denn sie glaubt an keine gelobten Länder, ihrer Schwester schreibt sie nach Amerika: Ich habe Angst, in Deinem Paradies anzukommen und dort noch Spuren meiner Hölle vorzufinden, die an mir festkleben.

Andere Frauen hingegen kämpfen nicht aus Angst, sondern aus trotziger Zuversicht für das Dableiben, oder zumindest fürs Heimkehren. Geht ins Ausland, empfiehlt eine Teheraner Professorin ihren Studenten, lernt dort, so viel ihr könnt – und kommt zurück. Um euer Land (weiter) zu verändern.

Im Alltäglichen aber verändern die Menschen es jeden Tag. Und sei es die junge Studentin mit ihren knallblau gefärbten Haaren, mit der wir an einer Straßenecke ins Gespräch kommen. Sie verändern ihr Land, indem sie da sind und indem sie so sind, wie sie sind. Enorm scheinen der Wunsch nach Begegnungen und der Hunger nach Bildung, denen wir begegnen. Als ich mit einem Berliner Kontrabassisten eilig einen Kaffee trinke, entdeckt der Kellner, der eben noch Espresso single or double? fragte, den Bogenkoffer des Musikers und bittet ihn, den Bogen herauszuholen, will gleich fachsimpeln, bringt seinen eigenen E-Bass herbei. Ein andermal, in der Musikfakultät, treffen wir einen überkandidelten jungen Mann, der nahezu perfekt Deutsch spricht, oder besser gesagt Österreichisch – den Sprachkursen des Österreichischen Kulturforums sei Dank. Nur, im deutschsprachigen Raum ist der beinah zu Eloquente noch nie gewesen. Dafür hat er Bratsche in einem Alte-Musik-Ensemble gespielt, in der Evangelischen Kirche von Teheran, daneben über Rhetorik in Bachs Musik geforscht, und derzeit übe er Ligetis Bratschensonate ein.

Und dann gibt es auch diejenigen, die andersherum träumen. Zu meinen kuriosesten Begegnungen in Teheran gehören einige junge Männer, die den entgegengesetzten Weg eingeschlagen haben. Man kann wohl überall auf der Welt solche verloren wirkenden jungen Männer finden, aber im Iran scheinen sie besonders zahlreich zu sein. Jede Seele eine unsichtbare Stadt. In der gelben U-Bahnlinie 4 spricht jemand mit einem roten Kapuzenpulli mich an, in akzentfreiem Deutsch: Vor zwanzig Jahren, noch als Teenager, sei er aus seiner Geburtsstadt Frankfurt in den Iran gezogen, das Land seiner Eltern. Zwischendurch sei er nach Deutschland zurückgegangen, habe sich dort aber nicht mehr integrieren können (ja, dieses Wort benutzt er), nun sei er wieder in Teheran, aber ein richtiger Iraner sei er auch nicht. Womit er sein Geld verdiene? Mit Deutschunterricht. Denn viele wollen weg.

Geknickte Lebensläufe. Mit einem Kölner Iraner namens Soheil gehen wir ins Hochgebirge, im Norden der Stadt, die man mit der roten U-Bahnlinie 1 erreicht. Ich habe Soheil tags zuvor in einem Sportladen kennengelernt. Der Blick aus fast dreitausend Metern auf die uferlos scheinende 15-Millionen-Megacity ist magisch und das Atmen in der reinen Höhenluft wie eine Wiederauferstehung. Beim Abstieg dann schüttet uns Soheil, der vom Iran und seiner Kultur ununterbrochen schwärmte und mit jedem, den er trifft, ein persisches Schwätzchen hält, sein Herz aus: Bedrückende Kindheit und Jugend, und so rechten Anschluss habe er nicht gefunden, seit er vor zwei Jahren, als Dreißigjähriger, hierher gezogen sei, in das oberhalb der Stadt gelegene Bergdorf Darband, das sich demnächst in das Beverly Hills von Teheran verwandeln könnte. Keine engen Freunde, keine Freundin. Niemand hier könne verstehen, warum einer von Deutschland in den Iran, und nicht umgekehrt, zieht. Und die jungen Teheranerinnen, so unser Verdacht, stellen sich unter einem deutschen Iraner etwas anderes vor als einen idealistischen Habenichts.

Als hätte hier einer sein Seelenheil in einer idealen Welt gesucht, die dann doch nicht so ideal ist. Und wer weiß, welche Spuren seiner eigenen Hölle der gutherzige, verlorene Soheil noch in seinem vorgestellten Paradies vorfindet.

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Vielleicht wird man dieser asymmetrischen Stadt, der Welt hinter dem Knick am ehesten gerecht, wenn man einige Bruchstücke einsammelt und nebeneinanderlegt, lose Eindrücke, weitere Begegnungen, ein scheinbar endloser Reigen.

Die Herzlichkeit der Menschen ist überwältigend. Welcome to our country, hören wir immer wieder, von Wildfremden. Unsere allererste Begegnung mit einem unbekannten Teheraner: Als wir in der Fakhr-e-Razi-Straße nach einer Bank zum Geldwechseln fragen, lässt der Ladenbesitzer kurzerhand das Gitter vor seinem Geschäft herunter und führt uns ans Ziel, erkundigt sich am Bankschalter, ruft dann, weil dort kein Geldwechsel möglich ist, ein Taxi herbei, das er zu einer bestimmten Exchange-Stube am Ferdowsi-Platz schickt – und drückt dem Taxifahrer noch, egal wie wir protestieren, das Geld für die Fahrt in die Hand. Betrachtet man nur kurz einen U-Bahnplan, wird einem sofort Hilfe angeboten, meist in vorzüglichem Englisch. Tārof  allerorten, die überbordende iranische Gastfreundlichkeit. Der Cousin meines iranischstämmigen Berliner Zahnarztes lädt uns per WhatsApp ein, in seine Wohnung im Teheraner Norden umzuziehen, dort sei es viel ruhiger als im innerstädtischen Hotel und die Luft besser. Schließlich treffen wir uns in einem szenigen Café, am Nachbartisch sitzt ein bekannter iranischer Theaterregisseur mit weißem Rauschebart und Löwenmähne. Und wir schämen uns, als der Zahnarztcousin, von Beruf Bauingenieur, erzählt, dass die deutsche Botschaft ihm nach wochenlanger Zusammenklauberei von Papieren, Einkommensnachweisen etc. pp. das Visum für den Besuch seiner Familie in Deutschland verweigert hat, ohne Begründung. 2016 war das. Als es in Deutschland keine andere Sorge mehr zu geben schien als die, dass zu viele Fremde kommen könnten.

Fremde im Iran: die bettelnden Straßenkinder, aus Afghanistan vermutlich, zerlumpte und schmutzige Fünfjährige, ein herzzerreißender Anblick. Durch die U-Bahnwagen laufen ständig junge und alte Männer und führen ihre Waren vor, Gürtel, Klebefolien, Zahnbürsten mit modernen Gummiborsten, tutendes Plastikspielzeug. Kinder und Greise verkaufen Kaugummis. Verkäuferinnen sind nur in den separaten Frauenwaggons der U-Bahn unterwegs. Als ich und ein anderer Mann einmal (Fettnäpfchen für Fortgeschrittene) versehentlich in so einen Frauenwaggon steigen, da sagt niemand etwas, und wir setzen uns um. An anderen Tagen stehen in den gemischten Waggons alte Herren auf, um meiner alles andere als gebrechlichen Begleiterin ihre Sitzplätze anzubieten.

Nur den Himmel über Teheran, den sehen wir kaum. Vom iranischen Sternenhimmel, den sie vor fast fünfzig Jahren dort erlebte, schwärmt die Mutter meines besten Berliner Freundes noch heute; aber das war natürlich schon damals der Himmel weit draußen auf dem Land, nicht der über der Metropole. Stadt ohne Himmel, nennt Amir Hassan Chehaltan einen seiner düsteren Teheranromane und bezieht sich damit auf die Schicksale seiner Protagonisten in den Umstürzen der Geschichte. Wir aber denken da sofort an den krankmachenden Smog in dieser Stadt. Viele Kinder tragen Atemschutzmasken. Zwölf Radfahrer zähle ich am ersten Tag, immerhin, todesmutige Pioniere der iranischen Verkehrswende.

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Das Wetter schlägt um, und zwar in jeder Hinsicht, als ich das Juwelenmuseum im Tresorraum der Iranischen Nationalbank besuche. Tags zuvor noch Sonnenschein und fast spätsommerliche Temperaturen (da stiegen wir auf den Berg), nun plötzlicher Schneefall.

Nach akribischen Durchleuchtungen werden wir als Touriherde im Schafsgalopp durch die Schatzkammer voller kaiserlicher Tränenperlen, juwelenbesetzter Schwerter, Kronen aus Diamanten gehetzt. So viele Edelsteine wie hier habe ich mein Lebtag noch nicht gesehen, aber genauer betrachten darf man sie nicht. Draußen schlägt indessen die Wirtschaftskrise über den Köpfen der Menschen zusammen: Die Regierung hat – so erfahre ich wiederum von unbekannten Fahrgästen in der U-Bahn – über Nacht den Benzinpreis drastisch erhöht und zudem die Abgabe streng rationiert. Was wie der Schneefall der Stadtluft durchaus guttut, aber für die gebeutelten Iraner einer Katastrophe gleichkommt. Wegen des US-amerikanischen Embargos ist die Wirtschaftsleistung ohnehin eingebrochen, die Inflation saust, von den zahllosen Nullen an den Rial- und Toman-Preisen schwirrt dem Besucher der Kopf. Gut für uns, dass die meisten Teheraner Händler und Taxifahrer so bemerkenswert ehrlich sind.

Am Theaterplatz sehen und hören wir abends, wie sich Protestierer versammeln. Unsere Informationen erhalten wir von Bekannten und Passanten, denn das Internet ist jetzt landesweit blockiert. Auch der riesige Teheraner Basar, auf den wir am nächsten Tag gehen, ist geschlossen, restricted, sagt uns ein verhinderter Händler und fügt (und da schämen wir uns wieder ein wenig) hinzu: Sorry about our economy. Es herrscht eine gespenstische Ruhe in den langen, verwinkelten Gängen voller heruntergelassener Läden. Man könnte sich diese seltsame Atmosphäre als ein geheimnisvolles Musikstück vorstellen. Aber es ist ja kein ästhetisches Ereignis hier, sondern für die Teheraner nackte, oft existenzbedrohende Realität.

So wie die Motorräder der Bassidsch-Milizen, die später im Pulk die Straße zur Teheraner Universität hinaufbrettern werden. Motorräder nicht nur, weil man damit besser durchs städtische Verkehrschaos kommt, sondern weil man damit „Aufrührer“ bis in die kleinsten Seitenstraßen verfolgen kann. Je zwei Männer sitzen auf diesen knatternden Motorrädern, der hintere kann mit seinem Knüppel jederzeit abspringen und dreinschlagen. Ihr Ziel sind die demonstrierenden Studenten, die auf dem Campus verblieben sind. Von dort wurden wir Gäste gerade eben gemeinsam, über einen Seitenausgang, herausgebracht. In dem Konzertsaal hatte tags zuvor unter den reglosen Blicken der beiden in Öl porträtierten Ayatollahs Khomeini und Chamenei noch eine wunderbare gemeinsame Aufführung von vierzig iranischen Yarava-Musikern und mehreren Instrumentalisten des ensemble unitedberlin stattgefunden. Infinite Conflict hieß ein Stück, ein anderes Objection, es ist alles musikalisch gedacht, keiner dieser Titel vordergründig politisch gemeint. Nun hatte es noch einen anregenden Workshop mit angehenden iranischen Komponisten gegeben. Der Dirigierkurs aber, den Catherine Larsen-Maguire  geben wollte, muss ausfallen. Er wäre der letzte Programmpunkt des Festivals gewesen. Bis dahin aber ist, trotz organisatorischer Mühen und zermürbender Kämpfe um Genehmigungen, alles glattgegangen. Fast ein Wunder, sagen manche. Und noch beim eiligen Verlassen des Universitätsgeländes ist zu hören, wie viel allen Beteiligten diese Begegnungen bedeuten: sowohl den Iranern als auch den Deutschen. Der Austausch, das Lernen. Die Ermutigung

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(Dieser Bericht ist die ungekürzte Urfassung meines Artikels in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN SONNTAGSZEITUNG vom 15.12.2019.)

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2 Gedanken zu „Begegnungen in Teheran

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