Lippenhängend: Rattle kehrt mit Bachs „Johannespassion“ wieder

Neuer Chef trifft den alten? So ein Quatsch.

Hoppla, gleich nach dem Neuen ist der Alte da – und er ist immer noch der Alte, will heißen junggeblieben: Simon Rattle dirigiert die Berliner Philharmoniker eine Woche, nachdem es sein Nachfolger Petrenko tat. Und siehe, das verträgt sich. Welt-Kritiker Manuel Brug, an dem sich die Geister scheiden, hielt kürzlich der Musikkritik das hysterische Japsen über die Petrenko-Ankunft vor (auch mit Zitaten von dieser Seite, einem davon allerdings missverstanden). Brugs wohl wichtigster Punkt: Eine ihrer verlorenen Bedeutung hinterherjagende Musikkritik macht aus Kirill Petrenko den Heiland schlechthin! Und verteufelt allen Ernstes bereits jetzt Simon Rattle, dem sie vorher noch ähnlich albern zugejubelt hat, macht ihn klein, und den aktuellen Nachschöpfer zum angehimmelten Gott. Offenbar wird das immer noch so gebraucht. Ein Ersatz-Christus muss sein.

Recht hat er. Dann lieber den richtigen Christus. Johannespassion. Bach.

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Goldsilbrig: Mendelssohns „Italienische“ und Mahlers „Lied von der Erde“ im Konzerthaus

Es gibt Programme, die kicken den Konzertgänger auf den ersten Blick. Obwohl er auch auf den zweiten und dritten Blick nicht ganz sicher ist, warum. Felix Mendelssohn Bartholdy und Gustav Mahler, das ist so ein Fall. Iván Fischer kombiniert die beiden beim Konzerthausorchester, das man ja schon deshalb mögen muss, weil es sich ohne blöden Bindestrich schreibt. (Daher der ganze folgende Text über die dritte, samstagabendliche Aufführung ohne Bindestriche.)

Warum kickts nun? Weil da Tag und Nacht aufeinandertreffen? Das sonnensüdliche Diesseits der Italienischen Sinfonie  und das schwarzschattene Jenseits des Lieds von der Erde? Felix Yin Mendelssohn und Gustav Yang Mahler? Aufbruch und Abschied überdies, wie Jens Schubbe im Programmheft schreibt, ideales Italien und eigenartiges Chinafantasma. Und beide überaus sanglich. Weiterlesen

Kreisquadratisch, überzeugwältigend: RIAS Kammerchor, Capella de la Torre, Justin Doyle mit 2x Monteverdi

Abschluss, vielleicht sogar heimlicher Höhepunkt des Claudio Monteverdi-Bogens beim diesjährigen Musikfest: Nach den drei Opern unter John Eliot Gardiner (mehr dazu und noch mehr) setzt es Geistliches im Doppelpack im Antrittskonzert des neuen Chefdirigenten Justin Doyle beim RIAS Kammerchor. Vor der unsterblichen Marienvesper gibts nämlich endlich mal den selten aufgeführten Hauptteil von Monteverdis gescheitertem Bewerbungsschreiben beim Papst zu hören, die Missa „In illo tempore“.

Die rangierte im Druck von 1610 vor der berühmten Marienvesper, die sich auf dem Titelbild nur im Kleingedruckten findet (ac Vespere pluribus decantandae). Während die Vesper ein Sammelsurium der verschiedensten modernen Stile ist, sollte die Missa Monteverdis Kompetenz im streng polyphonen Altväterstil beweisen. Weiterlesen

2.6.2016 – Zum Handküssen: John Eliot Gardiner und Berliner Philharmoniker spielen Strawinsky

Jetzt bringen die Historischen schon den Neoklassizismus auf Vordermann! Den Namen des bekanntesten Dirigenten unter allen britischen Bio-Bauern, John Eliot Gardiner, bringt man sehr zurecht mit Monteverdi, Händel und Bach in Verbindung. Aber bei den Berliner Philharmonikern dirigiert er mittleren Strawinsky, und höre, er führt die Musen zu Kohärenz und Poesie.Romano-dance_of_the_muses.jpg

In Igor Strawinskys Apollon musagète (1928, revidiert 1947) sind die Streicher halbrund angeordnet, im inneren Halbkreis sitzen Bratschen und Celli, im äußeren stehen die Geigen, wie bei einer barocken Suite. Vibrato dürfen sie immerhin. Schlanker, gewitzter und zugleich warmer Sound, hier ein kunstvolles Solotänzchen von Konzertmeister Andreas Buschatz, dort volles orchestrales Flair. Welche Muse nun welche ist, wissen die Götter, aber das Stück ist pure Freude, ungeheuer abwechslungsreich in seiner verschrobenen Diatonik.

Im Opern-Oratorium Oedipus Rex (1927) sind die eingeblendeten Übertitel nicht nur überflüssig, sondern eigentlich kontraproduktiv. Denn Igor Strawinsky hat sehr publikumsfreundlich einen Sprecher vorgeschrieben, der zwischen den musikalischen Abschnitten das Drama des Sophokles rekapituliert (hier eine Zusammenfassung mit Playmobilfiguren).

Bruno Ganz deklamiert so herzergreifend wie klar und deutlich, hat den Text zudem so präzise überarbeitet, dass er die Hörer detailliert auf dramatische Höhepunkte hinweist: Trivium, achten Sie auf trivium. Bruno Ganz vollbringt das Kunststück, als mitleidender Sprecher zugleich das Konzert zu moderieren, ohne dass es einen Hauch von moderiertem Konzert hätte. Wenn die bleich geschminkten Männer des Rundfunkchors dann Trivium singen, erschaudern die Hörer, als steckten sie in der Haut des unseligen Oedipus, der begreift, dass niemand als er selbst den alten König, seinen Vater, an der Weggabelung erschlagen hat. Zum Augen-Ausstechen!

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Das groß besetzte, von Bläsern dominierte Orchester tönt wie der von Gijs Leenaars einstudierte Männerchor als ein Körper. John Eliot Gardiner dirigiert sehr sachlich, ja zurückgenommen; wie genau er gearbeitet hat und arbeitet, ist kaum zu sehen, umso deutlicher zu hören. Sehr zurecht gibt Bruno Ganz dem Dirigenten nach dem Konzert einen Handkuss.

Den hätte auch der Tenor Andrew Staples verdient, der den an Krücken auf- und abtretenden Oedipus (er hat es bekanntlich an den Füßen) singt: leicht forciert in der Höhe, doch ungeheuer vielseitig, klar deklamierend, leise und lyrisch, biegsam melismatisch; wie seine Stimme in Eingang und Ausgang seiner Arien mit dem Orchesterklang verschmilzt, ist beglückend. Jennifer Johnston als Iokaste bringt mit ihrem dramatischen, nicht eben seidig timbrierten Mezzosopran ebensowenig weibliche Wärme in die Nemesis wie die sie begleitende Harfe – was nur recht und billig ist. Die Zuspitzung der Frau: die antike Mutter, wie es in Sibylle Lewitscharoffs Blumenberg heißt. Vom, rein sängerisch verdienten, Handkuss sieht man unter diesen verhängnisvollen Umständen lieber ab. Keine Antigone in Sicht! Dafür bringen auch die anderen Solisten, etwa der Bariton Ashley Riches als Kreon und Gianluca Buratto als Teiresias, kraftvolles Schwarz in die Finsternis.

Einzig Strawinskys kuriose Idee, das Drama des Sophokles auf Latein singen zu lassen (und zwar auf einen Text von Jean Cocteau, den ein Jesuitenpater ins Lateinische übersetzte), wirkt heute etwas befremdlich: weil Latein ja eben nicht befremdlich und fern klingt, sondern jedes Gloria, das man heraushört, aus diversen Messen vertraut scheint. Was für eine archaische Wucht hat dagegen das Altgriechische in Iannis Xenakis‘ 40 Jahre später komponierter Oresteia (vor zwei Jahren im Parkhaus der Deutschen Oper zu hören, unvergesslich):

Natürlich eine ganz andere Klangwelt. Strawinskys Oedipus Rex wird fast so selten gespielt wie Xenakis. Und so perfekt wie bei den Philharmonikern unter Gardiner wird man dieses (ohne Vorkenntnis packende) Stück erst recht nicht bald wieder zu Ohren bekommen.

Hier kann man in die Proben unter Gardiner reinhören. Für Freitag und Samstag sind erstaunlicherweise noch einige Karten erhältlich. Und in der Digital Concert Hall gibt es auch eine Übertragung.

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