Spirituelle Bambule vom Feinsten! Alle Witze über Justin (Vorname des Dirigenten Doyle) und Biber (Name des Komponisten) sind schon vorab gerissen und jede Lästerung gelästert über den klobigen Berliner Dom, diese Riesen-SUV-Hohenzollern-Bratwurst unter den Kirchen. Jedesmal kommt im Konzertgänger auf der Spreeinsel das Gefühl auf, dass hier vor 12 Jahren das falsche Monstrum abgerissen wurde, und der heimliche Wunsch, der sich ausbreitende Spree-Biber möge mal das Holzgepfähl unter dem Dom anknabbern. Null geistliche Empfindung auch beim Eintreten, dafür stets der Blick auf die vier protestantischen Ersatz-Evangelisten Luther, Melanchthon, Calvin und Zwingli, deren Statuen vorn an der Wand protzen. Was hätte der eifernde Musikverächter Zwingli wohl zu so einem Konzert zu seinen Füßen gesagt?
Doch dass Heinrich Ignaz Franz Bibers Missa Salisburgensis ein packendes Werk ist, machen der RIAS Kammerchor und die Akademie für Alte Musik auch in der schwabbligen Akustik des Berliner Doms deutlich.
1682 ist diese Messe wohl entstanden zu pompeusen Salzburger Fest- und Feierlichkeiten, erst seit 1977 wird sie Biber zugeschrieben. Der Wechsel von Pracht und Boombast einerseits, kunstvoller Innigkeit andererseits ist ausgesprochen wirksam: Overwhelming, wenn einen zu Beginn des Kyrie Pauken und Trompeten von den Seitenemporen aus in die Mangel nehmen. Herzfällig aber die intimen, fast zarten Abschnitte in den Leidenspassagen des Credo. Beim fast tänzerischen resurrexit danach wippt auch Zwinglis steinerner Fuß mit (denn wisset, Zwingli war gar nicht so unmusikalisch). Vier Blockflöten umschwirren den Heiligen Geist, von unverstellter Fröhlichkeit ist das Amen. Das finale Agnus Dei aber schmettert los, als sollte es gleich ein Händelhalleluja geben – um dann himmelweit abzubiegen in ein vokales Miserere, das nur von wenigen tiefen Violonen-Tönen gestützt wird. Tief ergreifend gestaltet der RIAS Kammerchor diese plötzliche Ungeschütztheit des Menschen.
Wenn es danach noch eine große Gala-Besingung des Salzburger Heiligen Rupertus setzt (Plaudite tympana), fürchtet man doch, dass die Fanatischen Vier Luther, Melanchthon, Zwingli und Calvin gleich ihre Schriften nach dem Chor schleudern werden. Aber in Bibers vergilbten Papieren folgt es halt, dem lokalen Anlass gemäß, auf die Messe. Eine Entscheidung des Dirigenten Justin Doyle hingegen ist es, die Abschnitte der Messe mehrfach durch Instrumentalstücke von Bibers Salzburger Zeit- und Ortsgenossen Georg Muffat zu unterbrechen. Das ist schon ganz in Ordnung: So kommen einmal die exquisiten Qualitäten der Akademie für Alte Musik, die in Bibers Messe gegenüber Chor und Raum unterzugehen drohen, halbwegs ins Hörlicht. Außerdem ist Bibers Messe mit dem Salzburger Dom für einen ebenfalls riesigen, einerseits effektvollen, andererseits akustisch unmöglichen Raum angelegt; viele mächtige Klangblöcke deshalb und viel C-Dur, während man sich die Differenzierung oft eher vorstellen muss.
Dass die akustischen Bedingungen im Salzburger Dom denen im Berliner Dom wirklich gleichen, kann man sich kaum vorstellen – zu verheerend sind sie nämlich hier. Der Schall scheint sich im Raum so träge zu bewegen wie eine Stubenfliege auf 3000 Metern, und was und in welcher Reihenfolge in den hinteren Hörwinkeln ankommt, mag man sich kaum vorstellen. Der Nachhall ist eher in Minuten als in Sekunden zu messen. Und bei aller Wucht klingt das alles auch extrem weit weg, was sowohl für den Chor als auch für die Instrumente doch ein Problem ist. Schreckensvorstellung, dass die Dirigenten Janowski und Thielemann in diesem Raum schon Bruckner-Sinfonien aufgeführt haben! Froh, nicht dabeigewesen zu sein! Die schönen Basslinien der Akamus-Violonen in Muffats G-Dur-Sonate jedenfalls sind eher zu ahnen, eine Art optischer walking bass.
Wie überhaupt sowohl an Differenzierung als auch an Begeisterung dieser Aufführung kein Zweifel erlaubt ist! Da gerade Frauen-WM ist, mag es statthaft sein, eine woman of the match zu küren, und zwar jene Akamus-Flötistin von edler Blässe, die natürlich vorzüglich flötet, aber auch in ihren Spielpausen mitsingt und überhaupt vor Freude an Bibers Messe platzt, dass das Freudeplatzen bis in die letzten Winkel des Doms dringt, selbst dahin, wo man nichts mehr hört. Und um die hohe Kunst des RIAS Kammerchors, der Akademie für Alte Musik, ihres Dirigenten Justin Doyle und der Komponisten Biber & Co angemessen zu würdigen, ist die Aufzeichnung durch Deutschlandfunk Kultur sehr willkommen, die in gewiss kunstvoll akustisch entwabbelter Fassung am 9. Juli zu hören sein wird. Denn so viel hört man im Dom genau: dass man Bibers Salzburger Messe unbedingt mal hören möchte.
Ts, ts. Jetzt gibt es in Berlin wenigstens einmal EINE Kirche, die was hermacht, und der gebürtige Berliner hat nur Spott für sie übrig 🙂 Aber schön, dass man in den Opern- und Konzertferien von Ihnen etwas zu lesen bekommt!!