Nichts so schön wie der Jammer: etwas ganz anderes als Jammern. Es ist das passende Wetter für ein richtiges Lamento, durch Wind und Regen radelt der Konzertgänger Sonntagvormittag zur Philharmonie, wo das Konzerthausorchester für das Musikfest ein Auswärtsspiel gibt. Mit demselben Programm hat es am Freitag bereits im Stammhaus am Gendarmenmarkt seine Saison eröffnet; dort hielt Iván Fischer vor dem Konzert eine kurze Ansprache, die zeigt, warum man ihn auch jenseits des Musikalischen schätzen muss:
In der Philharmonie hat am Abend zuvor noch das Boston Symphony Orchestra unter Andris Nelsons Mahlers Sechste gespielt: unbefriedigend, sagt der alte Herr, der neben dem Konzertgänger sitzt und jede Mahlersymphonie schon hundertmal gehört hat, kalte Perfektion, zu laut, nur gut, dass Nelsons nicht Philharmoniker-Chef geworden sei. (Dabei sind dieser und jener Kritiker hellauf begeistert.) Etwas entfernt unterhalten sich 3 Jungdirigenten über die entsetzlichsten Studentenkompositionen, die sie aufzuführen hatten.
Über Marc-André Dalbavies Sonnets de Louise Labé von 2008 dürften sie sich nicht beschweren, das ist ein beglückendes Klangerlebnis, komplex und abwechslungsreich komponiert und zugleich atmosphärisch dicht, als dunkelsüchtiger Teenager hätte der Konzertgänger solche Musik tagelang hören mögen. Hier dauert es 20 schöne Minuten. Philippe Jaroussky singt die Liebesklagen der Renaissance-Dichterin Louise Labé in perfektem When-I-Am-Laid-In-Earth-Sound: La vie m’est et trop molle et trop dure. Dalbavie komponiert mit viel Respekt für den Text, zum großen Teil syllabisch, manchmal rezitativisch, die feste Stimme des Countertenors schwebt in stabiler Schwermut über aufgefächerten Klangflächen, die sich mehrmals massiv zusammenballen. Im Sonett Lut, compagnon de ma calamité schreitet die Harfe (anstelle der Laute) minutenlang immergleich in die Tiefe, im letzten Sonett Ô longs desirs scheint der Streicherklang der Stimme einen mysteriösen Hall zu verleihen, bevor sie den Vers car ie suis tant nauree en toutes part (ich bin ja überall schon so zerschunden) mit ausgiebigem Melisma auf part zelebriert, eine zerschundene Koloratur sozusagen; am Ende verschmilzt die Stimme mit der Flöte.
Nach der Pause gibt es noch mehr vormittägliche Nachtmusik: Gustav Mahlers 7. Symphonie, die wegen des ordinären Finales seltener gespielt wird als ihre Schwestern. In der Mitte des Orchesters sitzt zwischen Celli und Bratschen das Tenorhorn, das sich aus der Blaskapelle ins Symphonieorchester verirrt hat; für den Konzertgänger ein bizarrer Gruß aus Südtirol, wo er bis vor wenigen Tagen war. Iván Fischer ist der vollkommene Dirigent für alles, was wie aus der Ferne klingt, die Mitte des 1. Satzes etwa und dann natürlich die 3 Mittelsätze: In der Nachtmusik I muss der Konzertgänger, als sich die Kuhglocken zu dem wiederkehrenden echoenden Horn gesellen, vor Glück die Augen schließen. Wie Fischer anschließend das schattenhafte Scherzo in Gang zaubert – dafür nähme man das Finale in Kauf, selbst wenn es 3 Stunden dauern würde. Doch zunächst bleibt die Musik im Zauberreich, in der Nachtmusik II, einer Serenade mit Gitarre und Mandoline.
Wie stets dann zu viel Dur im Rondo-Finale, das als Allegro ordinario beginnt. Fischer und das Konzerthausorchester machen das Beste aus diesem Satz, versuchen Freude statt Lärm zu evozieren, soweit die Paritur es eben zulässt. Wenn man den ersten Schreck überwunden hat, kann man es auch für mitreißende Musik halten, vor allem das irre Schlussspektakel; dem Konzertgänger kommt es trotzdem vor wie eine symphonische Dichtung über die Schrecken des Erwachens aus seligen Nachtgefilden.
So gut habe er Mahlers Siebte noch nie gehört, sagt der Herr, der jede Mahlersymphonie schon hundertmal gehört hat.
Eine Aufzeichnung des Konzerts wird am 19. September im Kulturradio gesendet.
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Philippe Jaroussky als Artist in Residence im Konzerthaus 2015/16
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