Sänger krank, singt halt der Dirigent: Was man bei Netrebko und Thielemann nur ungern erleben würde, funktioniert im Konzerthaus Berlin. Wobei funktionieren eine Untertreibung ist: Die Enttäuschung darüber, dass der Countertenor und diesjährige Artist in Residence Philippe Jaroussky krankheitsbedingt absagen musste, verwandelt sich dank Nathalie Stutzmann in die glückliche Gewissheit, einer musikalischen Sternstunde ohnegleichen beigewohnt zu haben.
Die große französische (Kontra-)Altistin Stutzmann war als Dirigentin eingeplant und angereist und zeigt ihren ganz eigenen, mitreißenden Stil bereits in Franz Schuberts eröffnender 4. Sinfonie c-Moll D 417, der sogenannten Tragischen: historisch informiert ohne Zwang zum schlanken Klang. Das Konzerthausorchester spielt kein bis leichtes Vibrato, aber ist groß besetzt und liefert fetten Sound mit schärfsten, doch stets präzisen Akzenten, vom donnernden Eröffnungsakkord der unendlich scheinenden Kopfsatz-Einleitung bis zu den drei Schlussschlägen des von Blitzen durchzuckten Finalsatzes. Das synkopische Menuett ist ein Scherzo at its best, wie ein Tanz von buckligen Riesen, die plötzlich zu schweben beginnen. Plötzlich ist man überzeugt, dass der juvenile Schubert der ersten sechs Sinfonien keineswegs ein Epigone war, sondern ein brodelnder Vulkan, der auch dramatisch statt episch gekonnt hätte; auch wenn es „nur“ der Gestus des Dramatischen sein mag. Hat es schon je so begeisterten Applaus für eine frühe Schubertsinfonie gegeben?
Die folgende viel kleinere Orchesterbesetzung verstärkt den Eindruck der Konzentration und Verinnerlichung, der die zweite Konzerthälfte auch in den opernhaft aufwühlenden Exaltationen auszeichnet. Nach einem Streichersatz von Francesco Durante, Pergolesis ihn um viele Jahre überlebendem neapolitanischen Lehrer, wird Giovanni Pergolesis Stabat Mater auch für den agnostischsten Hörer zu einer (kunst)religiösen Erfahrung, die ihresgleichen sucht.
Wenn es in Moby Dick in einer atemberaubenden Formulierung heißt, Ahab habe a crucifixion in his face, so hat Anna Prohaska eine Kreuzigung in der Stimme. Eine vor Anspannung bebende, sicht- und hörbar tief empfundene Darstellung von Leid und Todesschauer einer Frau, die ihren süßen Sohn verlassen sterben sah: vidit suum dulcem natum / morientem desolatum / dum emisit spiritum.
Doch der magische Moment schlechthin dieser Aufführung ereignet sich gleich zu Beginn, als Nathalie Stutzmann sich inmitten der musikalischen Einleitung mitsamt Dirigentinnenpult umdreht und zu singen beginnt: Stabat mater dolorosa… Sie hat einen dunkel getönten, warmen, manchmal glühenden Alt, der sehr tief reicht und kurioserweise stellenweise fast männlich klingt. Sängerisch ist alles da, was man sich wünschen kann, vor allem aber eine emotionale Dichte des Ausdrucks, die zutiefst menschlich wirkt und sich mit Prohaskas fast jenseitigem Sopran auf berückende Weise verbindet. Auch Stutzmanns Solo-Arien sind so intensiv durchlebt und gesungen, dass man als Hörer permanent auf der Stuhlkante sitzt. Was für eine Musikerin!
Wie die Streicher des Konzerthausorchesters, geführt von der stellenweise nach hinten dirigierenden Stutzmann und vom Konzertmeister Michael Erxleben (der, als einziger mit Barockbogen, auch ein exzellentes Solo spielt), über sich hinauswachsen, wäre eigener Lobeshymnen wert. Die Einleitung des Fac ut portem Christi mortem etwa klingt keine Spur breit und behäbig wie in manchen Aufnahmen, sondern auf eine Weise geschärft, dass man als Hörer mitzittert in dem Wunsch, Tod und Leiden mitzuspüren.
Bravo-Rufe verbieten sich bei Pergolesis Stabat Mater eigentlich, aber hier waren sie zwingend: ein Konzert, das keiner vergessen wird, der da war. Wer wegen Jarousskys Ausfall seine Karte zurückgab, hat allen Grund, sieben Schmerzen zu empfinden. Heute, am Samstag, steht das Konzert noch einmal auf dem Programm. Man will nicht so weit gehen, Jaroussky keine gute Besserung zu wünschen. Möge er also spätestens am Sonntag wieder kerngesund sein!
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hab gerade mir mal wieder den alten Neuenfels Troubadour angetan und festgestellt, das Stölzl an der Staatsoper schlecht geklaut hat. Fr. Meade und Fr. Miller überwältigend, Dalibor Jenis Stimmkrise, indisponiert oder am Ende?? Einspringer Kanev???
Mit Neuenfels verglichen wirken die meisten Jungen steinalt. (Stölzl erst recht, bei aller Sympathie.)
na ja, mit Stölzl habe ich so meine Schwierigkeiten, der Rienzi ging ja noch, aber sein Faust war einfach nur gräßlich,
Wahnsinn :-))