Hörstörung (29)

Eine Jacke nervt beim Quatuor Ebène

„Lust, meine Jacke auszuziehen und sie in hohem Bogen in das Gestrüpp zu werfen“, empfindet der Erzähler in Wilhelm Genazinos Ein Regenschirm für diesen Tag: weil das Wort Gestrüpp „die Gesamtmerkwürdigkeit des Lebens“ ausdrücke. Seine Konzertjacke hängt ein Herr im Kammermusiksaal der Berliner Philharmonie (bei einem der vermutlich letzten Konzerte, das vor der Niederkunft des nächsten Lockdowns noch stattfindet, einem Streichquartettabend des formidablen Quatuor Ebène) über die Holzplatte, die im Mittelknick von Block A zwischen linker und rechter Seite steht. Und bevor noch Joseph Haydns Streichquartett D-Dur Hob. III:34 beginnt, fragt er das auf der anderen Seite des Mittelknicks sitzende Paar, ob seine abgeworfene Jacke dort es störe? Nein, sagt er. Schön sei es allerdings nicht, fügt sie mit ernstem Blick hinzu, und da hängt er seine Jacke ab. Um sie nach der Pause dann zusammengefaltet auf den leeren Sitz zu seiner anderen Seite gelegt zu haben: mit dem Zweck, zwei amerikanische Studentinnen daran zu hindern, sich unbefugt auf zwei freie teure Plätze zu setzen, um das formidable Quartett besser zu hören. Worauf ein Konzertgänger in derselben Reihe spontan das tut, was ein musikliebender Mensch tun muss: nämlich einen Platz aufzurücken, damit die beiden Studentinnen sich doch gemeinsam auf die guten Plätze setzen können. Denn es wäre ein Jammer um jeden guten Platz, der leerbliebe bei diesem Konzert, in dem nach Haydn noch Leoš Janáčeks ungeheures 1. Streichquartett „Kreutzersonate“ erklingt, in dem schroffe Kratzklangflächen abrupt auf zarteste Momente purer Schönheit stoßen, eine kammermusikalische Oper nicht weniger aufregend als die gerade an der Komischen Oper neuinszenierte Katja Kabanowa (und wie sympathisch, dass der Seelenkauz Janáček die Erzählung Kreutzersonate des von ihm verehrten misogynen Nieselpriems Tolstoi kurzerhand komplett umdreht, um mit der von Tolstoi verachteten Frauenseele mitzufühlen – fast als musikalisches Äquivalent zu der, Janáček unbekannten, Gegenerzählung Eine Frage der Schuld von Sofia Tolstaja), sowie schließlich Robert Schumanns 2. Streichquartett F-Dur op. 41, 2, eine Herrlichkeit vom ersten Thema des Kopfsatzes an, das einer nicht enden wollenden Arabeske gleicht. Höchstens, dass das formidable Quatuor Ebène manchmal fast zu formidabel klingt. Welch Glück, dass der Hörstörversuch der verirrten Jacke gescheitert ist.

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