Berliner Philharmoniker mit Daniel Harding spielen Ligeti und Nasses

Lontano wäre die ideale Eröffnung der zweieinhalbwöchigen Biennale, die die Berliner Philharmoniker der Musik der 1950er und 60er Jahre widmen und deren Schwerpunkt György Ligeti ist – längst ein Klassiker wie Beethoven und Brahms, jawohl. Mit dem langen Ton eines unbekannten Instruments beginnt Ligetis Lontano von 1967, beim Hinsehen entpuppt es sich als Zusammenklang von Flöten und Celli. Und dann umhüllt und umkapselt die Musik den Hörer, trägt ihn in mikropolyphone Milchstraßen, ein Echtraumerlebnis und Echttraumerlebnis, wie es nur im SAAL möglich ist. (Hier eine lesenswerte Lontano-Einführung von Martin Hufner.)

Cherche la femme (Biennale-Version)

Wie gesagt: Wäre die ideale Eröffnung. Und sollte es ursprünglich auch sein. Ist es aber nicht, weil die Biennale, in der viele hörenswerte Sachen auf dem Programm stehen, einen leichten Rumpelstart hinlegt. Zum einen sind da eigene bemerkenswerte Fehlleistungen, etwa: keine einzige Komponistin im Programm. Und nach dem alten Kobra-Wegmann-Motto „erst kein Glück gehabt, dann kam das Pech dazu“ mussten verletzungsbedingt auch die eingeplanten Spielführer Kirill Petrenko und Simon Rattle passen.

Der Philharmonikerchef wird vom bewährten Daniel Harding ersetzt, der das Programm, statt mit Ligetis Lontano, mit Jean Sibelius‘ Okeaniden eröffnet. Das ist eine Schnapsidee, sowohl fürs Festival aufs Ganze als auch für den konkreten Abend. Zwar ist es ganz schön, die Sibelius-Okeaniden mal zu hören, sinnenvoll, man hat das Gefühl des Ein- und Auftauchens: bald verschwommen, bald wieder ganz klar. Jedenfalls klingt das nasser und phasenweise unterwässriger als Claude Debussys La mer, diese Licht- und Oberflächenmusik. Die war schon von Petrenko an den Schluss geplant worden. Harding nimmt sie zum Bezug für die zweifelhafte Idee, die geplante Uraufführung eines Werks von Miroslav Srnka (die vielleicht ohne Petrenko nicht zu leisten war) durch weitere Meeresmusiken zu ersetzen: neben Sibelius‘ Okeaniden noch die vier Sea Interludes aus Benjamin Brittens Peter Grimes.

Das ist für sich vielleicht (zu?) naheliegend, aber warum nicht … Mit Ligeti allerdings kollabiert die Programm-Architektur. Brittens Interludes haben illustrative und emotionale Reize, nur zwischen Ligetis Lontano und den ebenfalls gespielten Atmosphères ist das nix. Zu handfest, ja platt. Allzu promptes Hin und Her, das eine musikalische Kreislaufschwäche hervorruft. Das liegt gewiss auch am Temperament des Dirigenten, der ja sein Handwerk versteht. Während er Lontano einfach funktionieren lässt (was hier wohl auch Aufgabe des Dirigenten ist), wirkt er bei Britten ganz in seinem Element. Das Orchester lässt unter seiner Leitung vier Prachtballons und Brillanzbomben steigen und explodieren. Aber die beiden Ligetis und die sie rahmenden Sibelius/Britten/Debussy stehen einander gegenüber, ohne miteinander zu kommunizieren.

Wer hat Angst vorm wilden Meer?

Am ehesten gelänge das noch mit La mer. Ich hörte das Stück zuletzt (wenn ich mich recht erinnere) mit Daniel Barenboim, da trieb es von Anfang an und entfesselte sich im dritten Satz, als wär’s die Schluss-Ekstase der Rhapsodie espagnole. Harding vermeidet alles Drängen, Forcieren, Auftrumpfen, bei ihm herrschen Ruhe und Gleichgewicht. Man erlebt das reine Vergnügen hörenden Betrachtens, ohne Ertrinkens-Angst wie bei Barenboim (oder auch in Brittens Sea Interludes). So sehr Barenboims La mer mich seinerzeit begeisterte – dieses hier hat in seiner perfekten Klangstaffelung und einfach Schönheit ebenso seine Berechtigung, scheint in sich auch nahezu ideal.

Fünf hörenswerte Werke also statt eines wirklich kuratierten Programms. Der vorgesehene Hauptprotagonist Ligeti gerät dadurch fast etwas an den Rand. Aber immerhin noch ein Punkt für Harding: Die Atmosphères sind und bleiben ohnedies ein gewaltiges Erlebnis, wenn man das Glück hat, sie „in echt“ zu hören. Heute aber gilt es zudem, das so ungezogene wie ungesunde Publikum zu bändigen. Hemmungsloses Husten in einer Tour. (Noch schlimmer war es übrigens tags zuvor im Klavierrezital von Ivo Pogorelich, einem so bizarren wie irgendwie auch großartigen Erlebnis, in dem Chopinwerke leidensvoll zerdehnt und zerfleddert wurden wie die Fleddernoten, aus denen Pogorelich, manisch an der Notation klebend, spielte. Wunder der Vergegenwärtigung von Momenten und erschreckender Zerfall allen Zusammenhangs.) Harding aber gelingt es, nach den Atmosphères lange, sehr lange Stille im sonst so unruhigen Saal zu halten. Das ist viel.

Weitere Kritiken: „uninspiriert, leidenschaftlos, unnötig“ (Herr Schlatz), „grundsolide, aber keine eigene Handschrift“ (Herr Göbel)

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