Einen Lapsus der Biennale der Berliner Philharmoniker bügelt (48 Stunden vor deren zweitem Konzertprogramm, dazu unten mehr) der französische Pianist Bertrand Chamayou beiläufig aus, zumindest ein bisschen: Seine erste Zugabe ist eine stupende Etüde von Unsuk Chin. Und die ist nicht nur Schülerin von György Ligeti, der im Mittelpunkt der Biennale steht, sondern auch eine jener ominösen Frauen, deren Fehlen als Komponistinnen im zweieinhalbwöchigen Festivalprogramm hier oder auch hier bemängelt wurde. Ansonsten hat der lässige Zuschnitt der Biennale zu den 1950ern und 60ern, sehr weit um Ligeti herum, sein Gutes wie sein Schlechtes. Thematisch geht es bis zu Heimatfilmen und Architekturavantgarde, auch Chansons mit Tim Fischer gibt’s. Das ist schön in der Abwesenheit von Berührungsängsten, aber es dräut auch Ein-Kessel-Beliebiges-Risiko, für ein wirklich kuratiertes Programm fehlen manchmal (außer Frauen) Pointierung und stringente Bezüge. In Chamayous imposantem Soloabend im Kammermusiksaal ist genau das aber da.
Kritiker Göbel bemängelte zwar, dass bei Chamayou die Komponisten Luciano Berio und Olivier Messiaen „irgendwie gleich“ klängen. Aber wie gut die Cinque variazioni des Italieners und Cantéyodjayâ des Franzosen, beide Stücke kurz nach bzw kurz vor 1950 entstanden, zueinander passen, ist doch auch ein verblüffender Aha-Effekt. Bei Chamayous Berio duftet und schwillt und flitzt es, dabei auch in der Schwüle kühle, fast als wärs Ravel. (Dirk Wieschollek bringt es mit dem Begriff „serieller Sensualismus“ gut auf den Punkt.) Bei Messiaen wachsen Akkorde zu kleinen Kristallclustern, und der Sog des Ganzen zeigt nochmals, dass die Verparameterisierung aller Klangfarben, Lautstärken etc pp, kurz: Konstruktion keine Drohung sein muss, sondern Verheißung sein kann. Und Chamayou hat eben sowohl Motorik als auch Klangsinn in einem Maß, dass er wahrscheinlich noch in der seriellsten Musikfabrik keinerlei Anschein von Maschinellem zuließe.
Am Beginn seines Programms stand präparierter Bechsteinflügel: Daughters of the Lonesome Isle von John Cage, dessen Reiz sich heutzutage vielleicht etwas erschöpft hat. Alberner Pseudogamelansound und verzerrte Pentatonik erinnern mich sogar (vielleicht ungerechterweise, da es bei Cage ja positive Referenz ist) ungut an die gängigen Asiatenwitze der fraglichen Zeit; Mickey Rooney als Mr Yunioshy in Breakfast at Tiffany’s gehört zum Schlimmsten, Sie erinnern sich vielleicht. Aber wenn man die Augen zu hat, lullt es ein paar Minuten ganz gut. Warum hingegen Karl Amadeus Hartmanns so gut wie nie aufgeführte, auch kaum je eingespielte Sonate „27. April 1945“ eine derartige Rarität ist, fragt man sich. Harsch und virtuos, Strawinsky und Prokofjew klingen an, mehr noch Schmerz, Verzweiflung, Gewalt. Auslöser der Komposition war der entsetzliche Anblick der Dachauer KZ-Häftlinge, die kurz vor Kriegsende durch Hartmanns bayrisches Dorf getrieben wurden. Fassungsloser Fensterblick des inneren Emigranten auf den Horror … Woran es liegt, dass dieses Werk, als erstes Hauptstück von Chamayous Programm, mich beim Hören an diesem Abend dennoch kaum anfasst: Diese Frage bleibt für mich offen.
Fraglos hingegen der Sog, den das zweite und abschließende Hauptstück entwickelt. György Ligetis Musica ricercata scheint die Stunde-Null-Musik schlechthin, denn sie kommt aus einem einzelnen Ton. Erst nach Minuten tritt ein zweiter hinzu (eine Sensation fürs Hören), usw, bis nach einer halben Stunde alle da sind. Aber Ligeti griff in dieser Komposition Anfang der 1950er ja dennoch schnell auf überlieferte Formen zurück, etwa einen Walzer, hochkurios mit seinen vier Tönen.
Vor allem aber: Was hätten andere Avantgardisten aus dieser genialen Idee des Ton-für-Ton-Aufspürens bloß für steifes Zeug machen können! Bei Ligeti hingegen: ein explodierender Edelstein nach dem anderen. Hört man Chamayou, dann hat man keinen Zweifel, dass Ligetis Musica ricercata eins der großartigsten Werke in der ganzen Geschichte der Klaviermusik ist. / Zum Konzert
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Ein gutes Jahrzehnt später entstand Ligetis Requiem, das den Höhepunkt des Konzerts der Berliner Philharmoniker mit dem Dirigenten Matthis Pintscher bildet. Der ist für Simon Rattle eingesprungen. Und dass der Sir ebenso absagen musste wie eine Woche zuvor Kirill Petrenko (Daniel Harding ersetzte ihn), ist eine weitere Krux des Festivals; in dem Fall natürlich unverschuldet. Pfeiler des Requiems sind Polyphonie sowie Verstummen & Aufschrei, beides ins Extrem getrieben. Dass es sich vorwiegend um ein Chorstück handelt (wenngleich mit herrlich extravaganten orchestralen Tupfern), ist dank des in Basssknarzen wie Höhengleißen glänzenden Rundfunkchors Berlin eine Riesenfreude. Wie das aus der Tiefe heraufbrummt, und wie sanft schließlich die Solistinnen einschweben! Was folgt, ist durchgehend Tönetreffen der Extraklasse für vokale Mikromotoriker.
Nach atmosphères-haften Introitus und Kyrie wirkt der hochdramatische Dies-irae-Abschnitt im Gestus fast konventionell; im Klangbild natürlich nicht. Aber Posaunen etc sind da, wie man’s erwartet. Von nachhaltigem Eindruck ist es, wie die (ebenfalls eingesprungene) Mezzosopranistin Virpi Räisänen Angst und Entsetzen im Wortsinn verkörpert; während die Sopranistin Makeda Monnet konzis erquetschte Schreie aus sich quellen und gellen lässt, die schließlich von Klarinetten zum Explodieren gebracht werden. Donnerlüttchen, das ist das Ende. Im abschließenden Lacrimosa ist man aufgelöst. Manko sind allein die unverschämten Huster im Saal, die das Ligeti-Requiem teilweise zu einer Art Zombie-Konzert verunstalten.
Außerdem zu bedauern, dass dirigentenwechselbedingt Ligetis Apparitions gestrichen wurden. So stehen im ersten Programmteil Bernd Alois Zimmermann und Bohuslav Martinů allein und ziemlich zusammenhanglos da, von der Entstehungszeit abgesehen. 1966 collagierte Zimmermann seine Musique pour les soupers du Roi Ubu, da steht Tristan neben Radetzkymarsch etc pp. Ist vielleicht auch über derlei Kaustik die Zeit hinweggegangen? Hier jedenfalls kommt statt Sarkasmus manchmal eher ein Hauch Wunschkonzertflair auf, Tolle-Stellen-Stadl. Trotz schöner Effekte wie quasi flötender Kontrabässe wirkt das alles aufgeperlreiht, eine etwas steife Angelegenheit. Rattle mit seiner Dauerdrüse hätte wahrscheinlich aus dem Stück mehr Schärfe geholt. Zumal im Schlusssatz hätte ich mir im Klangbild mehr, sagen wir, Brutalität gewünscht. Denn das ist der stärkste Abschnitt, tatsächlich grandios: Kopf-ab-Trio aus Wagner, Berlioz, Stockhausen, die Walküren determinieren den Abweichler zum Richtplatz. Aber um genau zu sein: Eigentlich hätte ich mir von Zimmermann gewünscht, seine ganze Komposition bestünde aus diesem einen, dafür dann unbedingt fünfmal so langen Satz.
Passt Zimmermanns Stück irgendwie zu Bohuslav Martinůs Rhapsody-Concerto von 1952, abgesehen davon, dass beide Werke zum allerersten Mal bei den Berliner Philharmonikern auf dem Programm stehen? Auch wenn beide kompositorisch auf Rückwendung basieren, ist Martinůs Bratschenkonzert kein uneigentliches, indirektes Sprechen, ganz im Gegenteil. Zimmermanns Sarkastik mag zwar ebenso persönlich sein wie die Wehmut von Martinů, dessen Musik aus Heimweh kommt nicht nur im Raum (in New York nach Böhmen sich sehnend), sondern mehr noch in der Zeit. Der Philharmoniker Amihai Grosz spielt das als Solist so innig, intensiv, einfach schön, mitunter berührend, dass es nix zu mäkeln gibt. Erst recht reine Spielfreude (die wohl ebenfalls aus tiefer Komponistendepression stammt) ist die Zugabe, ein „Madrigal-Duo“ von Martinů für Viola und Violine, bei dem der Konzertmeister Noah Bendix-Balgley Grosz‘ Partner ist. Um Ligetis Apparitions ist es trotzdem schade.
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Martinu scheint eine Renaissance zu erleben, hab gerade letzte Woche in Salzburg seine Bratschen-Rhaposdie gehört.
Schön. Martinů hat wahnsinnig viel komponiert. Seine Symphonien sprechen mich mehr an als das Bratschenkonzert.
Naja, Fischer Iván hatte ja Max Hopp mit Fahrrad beim „Ubu“ dabei. Das hat gefetzt und da war’s auch kein Stückwerk nicht. Damals.
Kann ich mir vorstellen. Hier hatte es leider ein bisschen von Pflichtübung.