Das Musikfest Berlin bietet nicht nur großorchestrale Feuerwerke, sondern auch kammermusikalische Sternstunden. Eine fand am Samstag statt: Das Ensemble Resonanz (beheimatet in St. Pauli und bald, oho, erstes Residenzensemble im Kammermusiksaal der Elbphilharmonie, quasi als Resonanzresidenz) präsentierte ein Programm von zeitlicher wie ästhetischer Überlänge, in dem Franz Schubert, Enno Poppe und Rebecca Saunders einander resonierten und echoten. Und zwar in der klammerförmigen Anordnung Schubert/ Poppe/ Saunders/ Saunders/ Poppe/ Schubert, summa summarum etwas über 180 Minuten, keine zuviel.
Selig, wer sich gesundlachen kann über die verquaste Sprache, in der gern über Neue Musik schwadroniert wird! Dem Konzertgänger schwant Schlimmes, da über Rebecca Saunders (*1967) geschrieben steht: Seit 2003 interessiert sie sich vermehrt für die skulpturalen Eigenschaften von organisierten Klangereignissen. Zum Glück stellt sich die auditive Rezipienz der Reproduktion der von Saunders organisierten Klangereignisse divergent dar, anders gesagt: Ire und Fletch klingen aufregend.
In Ire (2012) brummelt sich das Klangereignis aus der Tiefe herauf: zuerst das solistische Cello (Saerom Park) auf der um eine Oktave nach unten gestimmten und darum schlabbrigen C-Saite, dann ein knurrender Kontrabass, die murrende Große Trommel. Allmählich grunzt und grantelt sich das Klangereignis in höhere Regionen, der Tonfall wird zunehmend aggressiv. Aber die Energie bleibt gestaut, entlädt sich nur teilweise, wie ein Gebrüll mit zusammengepressten Lippen. Zum Gegenspieler des Cellos in diesem unartikulierten Kampf wird vor allem das raffiniert eingesetzte Schlagwerk (Thomas Meixner), inklusive stählerner Fahrwerksfedern und Löwengebrülltrommel (die man leicht selbst bauen kann). Schließlich verdünnisiert sich der aus der Tiefe gekommene verkniffene Streicherklang in die Stratosphäre.
Aus wenigen Grundbewegungen entsteht Saunders‘ rasantes Streichquartett Fletch (2012), bei dem der Hörer sich in Pfeilgewittern wähnt. Mal weit entfernt, mal dicht vor seinem Ohr schießen die Klangspitzen durch den Raum: ein monothematisch konzentriertes Streichquartett, das sich bei aller Schrillheit bestens mit Haydn koppeln ließe!
Sind Ire (Wut) und Fletch (befiedern) bereits schön knappe Werktitel, so ist Enno Poppe (*1969) ein Meister der konzis schwammigen Musikbenamung. Einige Beispiele: Speicher, Knochen, Wespe, Holz, Öl, Wand, Trauben, Salz, Brot, Zug, Schrank, Koffer, Obst, Altbau. Das Streichquartett Tier (2002) beginnt mit kleinen, anscheinend oder bloß scheinbar für sich stehenden Explosionen und Wirbeln auf engstem Raum. Allmählich entwickelt sich ein Klangfluss daraus, weitet sich zunehmend, aber immer ein paar Meter über dem Flussbett schwebend.
In Poppes Filz (2015), dem vorletzten Stück des Abends, hüpft das Herz des Konzertgängers vor Freude, endlich Bläser zu hören. Der Klang der vier (Bass-)Klarinetten verfilzt sich aufs feinste mit der Bratsche von Tabea Zimmermann, die sprunghaft zwischen Höhe und Tiefe vibriert, später kadenziert. Filz ähnelt Fletch mit den sich wieder und wieder beschleunigenden Geschossen, wirkt aber beim ersten Hören noch prägnanter. Dabei verfilzen sich die sinnwidrigen Vibratoverbindungen (Poppe) in ein immer komplexeres, dabei stets hochattraktiv klingendes und oft komisches Gespinst. Nach dem Höhepunkt mit akuter Tinnitusgefahr öffnet sich überraschend die Tür zu einem Raum der fahlen Farben, in dem auch plötzlich ein Zwerg tanzt und aus dem es kein Herauskommen mehr gibt.
Außer durch Schubert. Dessen Symphonie Nr. 5 B-Dur D 485 steht am Ende des Abends, elegant „historisch“ musiziert unter der Leitung Tabea Zimmermanns vom Bratschenpult aus. Wenn man sich erinnert, wie diese Symphonie letztes Jahr bei den Berliner Philharmonikern unter Haitink im Schlund des Großen Saals unterging, ist die Freude umso größer, sie am richtigen Ort im Kammermusiksaal zu hören (der ja nicht kleiner ist als der Große Saal in Wanne-Eickel oder Pirmasens). Und in welchem Neue-Musik-Konzert nähme man nicht gern noch einen Schubert hintendran geschenkt?
Noch deutlicher als die Symphonie verfilzt sich die Streicher-Ouvertüre c-Moll D8a mit der eingeklammerten neuen Musik. Das Ensemble entdeckt in der Ouvertüre des 14jährigen Schubert kein frühes Epigonentum, sondern extreme Klänge, die im Kontext dieses klug gebauten Programms in immer neuen Facetten nachfletchen: irritierende Seufzer, fahle Tonwiederholungen, plötzliche Abbrüche. Grandios, wie am Schluss der Ouvertüre Tabea Zimmermanns Bratsche in zuckendem Vibrato hervorleuchtet. Echos und Resonanzen.