Nach der antiken Klepsydra ist eins der beiden Werke im Eröffnungskonzert der MaerzMusik benannt: einer der Sanduhr ähnlichen, nur eben feuchteren Wasseruhr. Das Plätschern und Blubbern von ablaufendem Wasser meint der Konzertgänger zu vernehmen, wenn er so durchs diesjährige Seminarprogramm des Festivals für klangbezogene Kunstformen (jede Menge Vorträge, Panels, Reading group etc.) und durch den Reader on Time Issues (Agamben, Diederichsen usf.) blättert. Einiges mag sich als aufschlussreich konkret herausstellen, etwa die „medienarchäologischen Zeitreisen“ der Tele-Visions. Dezente Schwerpunkte widmen sich z.B. den Komponistinnen Ashley Fure, Jennifer Walshe, Olga Neuwirth. Und die 30stündige Konzert-Exuberation The Long Now am nächsten Wochenende ist wieder Anker und Zielpunkt des Festivals.
Die Werke des ersten Abends im Haus der Berliner Festspiele sind wie klares Wasser – in einem dennoch strapazierenden Konzert, in dem der Durchlauf der Wasseruhr gelegentlich verstopft scheint.
Aber wenns fließt, fließts. Sieht man Horațiu Rădulescus Clepsydra von 1981/82 zu, hörts sich redundant an. Aber schließt man die Augen, wähnt man sich im Inneren eines Tons, im Betriebsgeräusch des Klangs, einem mystischen Sägen. Nur will man zuerst die Augen gar nicht zumachen, weil schon der fitzelige Aufbau der von Carlos Sandoval präparierten Instrumente ein spektralmusikalisches Spektakel ist, und wie dann erst die Aktion: Sechzehn kniende und stehende Musiker (Leitung Samuel Dunscombe und Ernst Surberg) ziehen mit Nylonfäden, Angelschnüren, Stahlsaiten vibrierende Zappelresonanzen aus auf der Seite liegenden Konzertflügeln heraus, auch aus einigen Klavieren, und mitunter werden die Fäden mit Fingern oder Kontrabassbögen gestrichen. Ein multipel knarzender, atmender Organismus entsteht, und schließt man also endlich die Augen, wähnt man sich als Schläfer im Inneren eines Flügels, der die Welt ist, mal in schönen und mal in unruhigen Träumen, bald auch traumlos. Das Ganze mündet schließlich in eine berauschende Klangfülle, fast ein Fall für den Drogenbeauftragen.
Rădulescu? Nie gehört. 1942 bis 2008. Überwältigend mitziehend ist das – wenn man es will und sich drauf einlässt. Das heftige Geblubber und Plappergeplätscher im Publikum ist allerdings nicht nur eine Zumutung, sondern auch für ein Neue-Musik-Festival überraschend, im üblen Sinn. So war klangbezogene Kunstformen nicht gemeint, dass man aus jedem Verschluss den Stöpsel herauszieht.
Allerdings ist bei Rădulescus Clepsydra die Bereitschaft zur Kontemplation auch arg lädiert durch ein vorhergehendes Very Long Now. Das spricht allerdings nicht gegen Clepsydra, sondern gegen die Programmplanung, die sich auch fragen lassen muss, ob es eine gute Idee war, den 81jährigen Fredric Rzewski seinen Klavierklassiker The People United Will Never Be Defeated von 1975 eigenhändig aufführen zu lassen. Natürlich kann man da nicht die Performance eines jungen Pianisten erwarten. Ein alter Mann spielt das Werk des jungen Mannes, der er mal war – suchend, staunend, schmerzlich ringend, in guten Momenten wahrhaft beseelt, aber auch sehr überfordert. Was ja kein Wunder ist angesichts eines so ausufernden Überforderungskomplexes wie diesen komplexen Variationen über das chilenische utopische Kampflied El pueblo unido jamás será vencido. 80 oder 90 Minuten dauert die Interpretation hier statt der üblichen 50 bis 60, und manches tönt arg erratisch. Selbst wenn Rzewski mitpfeift, wie die Noten es vorschreiben, ist das fahler und tonloser als einst komponiert. Immer wieder ist das sehr bewegend, und die Standing Ovations gelten, ganz zurecht, einem Lebenswerk. Rzewski gibt da sogar noch eine Zugabe und ruft am Ende in den Saal: Nicht gut! So wie er beim Betreten der Bühne, ohne dass jemand darauf reagierte, um das Abstellen der (in der Tat sehr lauten) Klimaanlage gebeten hat.
Was macht man aus so einem problematischen Auftritt, den man kaum je vergessen wird? Vielleicht eine Aufforderung an die hochbegabten jungen Pianisten der Welt: Genossinnen und Genossen, studiert dieses monumentale, berührende Werk ein statt alle nur Liszts h-Moll-Sonate! Einstweilen spielt Rzewski aber selbst weiter; nochmal zum Beispiel, mitsamt einem neuen Stück, bei The Long Now zur neunzehnten von dreißig Stunden (31.3., 13h).
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