11.9.2016 – Fraktal: Junge Deutsche Philharmonie, Nott, Kuusisto spielen Varèse, Ligeti, Beethoven

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Philharmonie (Detail)

Die Tochter des Konzertgängers kommt am Sonntagvormittag nicht nur deshalb mit in die Philharmonie, weil deren goldene Fassadenplatten sie an Toffifee erinnern, sondern auch weil der Geiger Pekka Kuusisto und die Streicher der Jungen Deutschen Philharmonie sich in György Ligetis Violinkonzert (1990) alles erlauben dürfen und müssen, was die Geigenlehrerin ihrer Schülerin auszutreiben versucht: Kratzen, Wimmern, weinerliche Kantabilität, Fiepsen, Bogenschlackern, wüstes Drauflosschrubben mit verstimmten Geigen.

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Fraktales Gebilde (Foto: Wolfgang Beyer)

Dass das alles hier auf einer gefinkelteren Ebene stattfindet als in der Geigenstunde, entgeht ihr nicht. Schließlich verbindet Ligeti (in seinen eigenen Worten) afrikanische Musik mit fraktaler Geometrie, Maurits Eschers Vexierbilder mit nicht-temperierten Stimmungssystemen, Conlon Nancarrows polyrhythmische Musik mit der Ars subtilior des 14. Jahrhunderts.

Es ist ein Werk von beglückendem Klangreichtum, und in einer besseren Welt wäre die Philharmonie wegen dieses mikropolyphonen Violinkonzerts ausverkauft. Allein die Spannung zwischen dem immer stärker vibrierenden Flageolettton der Geige und dem aufsteigenden Bläserklang ist phänomenal. Die jungen Musiker spielen das, unter der Leitung von Jonathan Nott, so hingebungsvoll wie exakt. Pekka Kuusisto (hier ein knackiges Interview im Guardian) ist nicht nur technisch brillant, sondern so spritzig, spielfreudig und ausgesprochen lustig, dass es jede noch so verkrustete Hörerseele aufkratzt und kregel macht: in seiner Mischung aus Kasperle und Mystiker der ideale Interpret. Ein Höhepunkt des Musikfestes!

Zudem spielt Kuusisto (nachdem er seinen Blumenstrauß ins Publikum geworfen hat; wenn auch zum Verdruss der Tochter des Konzertgängers nicht bis in Block B) die aktuellste und originellste Zugabe, die seit langem zu hören war: ein schwedisches Auswandererlied aus dem 19. Jahrhundert voller Abschiedsschmerz, Sehnsucht, Hoffnung – und zwar in einer faszinierend „unreinen“, dabei atemberaubend zarten, tastenden Fassung, sanft wogend, pfeifend, am Ende grundiert vom leisen Bordun-Summen des Orchesters.

Zuvor standen keine Streicher, dafür 14 Bläser, 1 Klavier, 5 Schlagzeuger auf der Bühne, um das Konzert mit Edgar Varèses Déserts (1950-54, rev. 1960) zu eröffnen.

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Dessert, nicht von Varèse (Foto: jeffreyw)

Aber im Gegensatz zu den aufregenden Arcana, die die Berliner Philharmoniker am Freitag und Samstag spielten, scheinen die Déserts dem Konzertgänger unentschlossen vor sich hin zu dümpeln. Viel mehr, als dass alles vorhandene Schlagwerk einmal ausgelüftet, entstaubt und von den Bläsern durchgepustet wird, kommt nicht dabei rum. Als Qualitätskontrolle für die enorme Präzision und Intonationssicherheit der Musiker hat das allerdings seinen Wert. Ganz arg sind hingegen die Interpolationen für „electronically organized sound“, Klangcollagen vom Tonband, die sich nicht etwa mit den Klängen der Instrumentalisten verbinden, sondern das Stück dreimal unterbrechen. Das Orchester hört staunend zu oder inspiziert währenddessen seine Instrumente. In den Kindertagen der Elektronik mag dieses Tonband-Intermezzo ein Aufreger gewesen sein, aber nichts ist ja so langweilig wie Pioniertaten: ein Fall für die Tage für uralte Musik.

Während Beethoven bekanntlich nie veraltet. In der zweiten Konzerthälfte kann man sich über den formidabel abgerundeten philharmonischen Klang freuen, in dem die JDPh die Eroica präsentiert: sowohl kollektiv als auch solistisch ein Ausweis hoher Spielkultur. Hier und da (in der Durchführung des Kopfsatzes etwa oder den Härten des Trauermarsches) würde vielleicht eine Prise Pfeffer, ein Tick mehr Schärfe nicht schaden – Feuer, wie es der umsichtig leitende und unnachgiebig antreibende Jonathan Nott ständig fordert und anfacht, bis hin zum aggressiven Anzischen der zweiten Geigen in der Coda des Finalsatzes. Auf diesen produktiven Schreck bekommt deren Stimmführerin dann auch im begeisterten Schlussapplaus den Blumenstrauß des Dirigenten geschenkt.

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Ein Gedanke zu „11.9.2016 – Fraktal: Junge Deutsche Philharmonie, Nott, Kuusisto spielen Varèse, Ligeti, Beethoven

  1. Typisch. Sie können aber auch kein Konzert auslassen.
    Die irgendwie schon spätstiligen Déserts (Elektro abgezogen) haben mir jetzt besser gefallen als die meiner Meinung nach überambitionierten Arcana. Ansonsten freue ich mich auf Ligeti Violinkonzert Rattle/Kopatschinskaja. Feb17.
    Ja, die Zugabe berührte.

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