Hüpfnotisch

Philip Glass‘ EINSTEIN ON THE BEACH

Als „Gehirnwäsche“ bezeichnete meine gleichermaßen konzertsüchtige wie meinungsfreudige Bekannte K. einmal den sogenannten Minimalismus. Philip Glass‘ Einstein on the Beach von 1976 war jedenfalls schon „immersiv“, bevor sich mittels dieses Zauberworts jeder Jungklangkünstler jede Strapazierung von Publikumsgeduld und -grenzen erlaubte. Jetzt gab es eine Fassung dieser handlungsfreien Oper von Susanne Kennedy und Markus Selg im Epizentrum der künstlerischen Immersion, nämlich dem Haus der Berliner Festspiele, das architektonisch sowas ist wie die kleine Schwester der Deutschen Oper, aber schöner gelegen.

In den Garten kann man während der vierstündigen Aufführung nach Belieben schlendern ebenso wie auf, in und um die sich drehende Bühne; und nach ebensolchem Belieben wieder vom Garten zurück in den Saal und von der Drehbühne ins Starrparkett. Die Sänger solmisieren die ganze Zeit, was bedeutet, dass nur do-re-mi-fa-usw gesungen wird. Nur wenn sie sprechen, sagen sie two-seven-four, und dergleichen. Lorem-ipsum-Libretto, sozusagen. Wobei die Zählerei die Chose für mich quasi hyper-immersiv macht, denn ich komme direkt vom Sommerfest des Kindergartens, wo zehn scheidende Vorschulkinder bravourös eine gleichfalls beinah vierstündige Zahlenwahl aufführten, mit einem „starken Mann“ als 2, betörenden Ballerinas als „7“ und einer sehr betrübten 0, die dann aber hastenichgesehn im fulminanten Finale mit der 1 zur 10 amalgierte. Hochdramaturgische Zielorientierung der Vorschüler also, die Glass‘ komplett relativem Werk strikt abgeht (Einstein! Zeit! You name it!). Und doch scheint der Minimalismus ein Jungbrunnen zu sein, jedenfalls frappierend gesund zu halten, denn die alten Haudegen leben ja alle noch: Glass und Steve Reich sind 85, Terry Riley 87, La Monte Young 86.

Chaplin, Hitler und Gandhi erwogen Glass und sein Partner Robert Wilson (der ist erst 80) als, nun ja, Hauptfiguren ihres Werks, bevor sie sich für Einstein entschieden. Wobei Glass über Gandhi später Satyagraha komponierte, indisch-mystisch, was aus heutiger Sicht cultural-appropriation-Ballast wittern lässt. Von Albert Einstein ist vor allem die Geige da – neben diffuser Relativität: von dem unkonventionellen Genie A.E., der einst die Zeit relativierte, ist im Programmheft peinlich zu lesen. Dass Kennedy und Selg die Solistin aber keine alberne Einsteinperücke tragen lassen, wie es im glass-wilsonschen Original wohl der Fall war, nimmt für ihre Version ein. Was allerdings auch nottut, denn man betritt den Saal doch skeptisch bis geladen nach der Lektüre der Ankündigung: „ein posthumanistisches Gesamtkunstwerk über Raum und Zeit, das die Grenzen zwischen Mensch und Maschine, Realität und Simulation verwischt“. Das freche Geschwafel in den Programmbüchern der Berliner Festspiele, am ärgsten regelmäßig bei der MaerzMusik, ist immer wieder eine Anfechtung.

Was das Inszenierungsduo an die Stelle von Wilson gesetzt hat, ist die erwähnte begehbare Bühne, ein Mix aus Computerspiel oder auch Windows-Bildschirmschoner (desert blurbs) und Riesen-Minigolfplatz. Mit den ulkigen Statuen hat die Landschaft auch was von Swingerclub Frutti-Oase Alt-Biesdorf mit donnerstags Spanferkel. Der ganze Schmu passt aber schon, wenn man rumgeht oder sich reinlegt. Und wenn bei Glass ein Abschnitt mit sowas wie „transdimensionale Portale zu einer neuen Zukunft“ übertitelt ist, wirkt diese Ron L. Hubbard-Dianetik-Anmutung hier ganz adäquat. Es gibt auch eine Ziege auf der Bühne, anbetendes Armkreisen der knienden Darsteller, etc pp.

Trotz des ganzen Gerümpels on screen & stage ist der Schauwert auf Dauer erstaunlich gering. Was mit Licht wär doch schön. Die alten Hasen erzählen natürlich von damals, verglichen mit Wilson sei das alles nix. Jaja. Auch Achim Freyers 1988er Fassung, die Glass mit Schlemmers Triadischem Ballett auf die Pelle zu rücken suchte, würde einen interessieren. Andererseits muss ja mal versucht werden, das Werk ins Freie auszuwildern. „Eines der berühmtesten Opernereignisse des Jahrhunderts“ sei die Uraufführung 1976 in Avignon gewesen, schrieb Tim Page; der allerdings mit Glass gut Freund ist.

Was nun la musica angeht, ist Einstein on the Beach für mich in den besten halben Stunden durchaus Gehirnwäsche im guten, reinigenden Sinn. Führt das ganze hüpfende Repetitions-, pattern- und Phasenverschiebungsdingsbums nicht die Musik in den kindlichen und damit menschlichen Grundzustand des Ritzentretertums zurück? Von wegen posthumanistisch! Das strikt regelgesteuerte Betreten der immer wieder variierenden Trottoirplatten beim infantilen Flanieren ist ja geradezu der Inbegriff von Anthropozän.

Natürlich gibt es auch extrem langweilige Passagen, etwa das Solo-Dreiviertelstündchen des Keyboards. Und die ultra-behende Geigengeläufigkeit der Solistin Diamanda Dramm macht einen etwas traurig, oder durstig danach, dass es doch mal irgendwo hin ginge. Immerhin, wie gesagt, zum Glück ohne Einsteinperücke. Aber zwangsläufig wirkt so ein Violindauerlauf parodistisch, was im Grunde der Idee von Immersion zuwiderläuft; denn Parodie zielt ja auf Pointe, selbst wenn es eine stehende Dauerpointe ist.

Nicht nur Dramm, auch das von André de Ridder geleitete Ensemble Phoenix Basel macht seine instrumentale Sache so geduldig wie engagiert. Selbiges gilt für die Basler Madrigalisten, die immerzu rumgehen, auch mal immersiv durch die Parkettreihen, und einzelne Zuschauer komisch ankieken. Dabei tragen sie abstehende Lämpchen über der Stirn, nicht wie Höhlenforscher, eher wie Anglerfische. Die locken ja bekanntlich in der Tiefsee neugierige Fische an, um sie aufzufressen; bis sie eines Tages selbst vom Schwarzen Schlinger vertilgt werden. Wenn das nicht immersiv ist! Nur, wer ist in der Tiefsee des Opernsaals der Schwarze Schlinger? Mag sein, die hüpfende Repetition.

Anglerfische schauen dich an …
bis sie im Magen des Schwarzen Schlingers landen

Ein vokaler Höhepunkt, auch in athletischer Hinsicht, ist das ekstatische Japsen und Schnaufen in einer Art Geburtsvorbereitungskurs-Rhythmus (viermal einhecheln, zweimal ausstoßen oder so), während zwei Sängerinnen mit permanentem Do und Mi grundiert. Diese überschwappende Atem-Aktion ist packender und auch lustiger als das letztlich ja ebenso ergebnislose ewige Gepuste bei Helmut Lachenmann, um mal in diese Richtung zu immersieren. Und mir fällt ein, vielleicht sollte man mal Einstein on the Beach und Lachenmanns Mädchen mit den Schwefelhölzern einander gegenüberstellen, als die beiden konträren und in ihrer Alinearität doch verwandten großen Nerv-Opern des zwanzigeinhalbten Jahrhunderts.

Womit ich mich bei Glass schwertue, sind die Wechsel der musikalischen „Nummern“, auch wenn sie sich gefühlt nur alle paar Stunden ereignen. Dennoch: Wenn irgendwas „durchkomponiert“ sein müsste, dann doch wohl das? Und letztlich würde ich ganz subjektiv John Adams‘ Nixon in China eine größere Bühnenzukunftswahrscheinlichkeit prognostizieren. Was auch einfach daran liegen kann, dass der Mythos Einstein on the Beach auf mich letztlich erstaunlich unhypnotisch wirkt. Das mag allerdings an mir als Hör-Bunny liegen, nicht am Rigger; schließlich schlug an mir schon im Abiturientenalter einmal ein großer Hypnotisierversuch fehl, der Hypnotiseur befand mich als verstockt.

Zu Einstein on the Beach

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2 Gedanken zu „Hüpfnotisch

  1. Lieber Herr Selge,

    wie sympathisch soll man Sie denn noch finden? Jetzt sind Sie auch noch verstockt gegen Hypnose und das schon seit dem Abi….

    Mich erinnert Ihr Immersionserlebnis an einen nicht ganz so langen, aber ziemlich langen Film aus Tadschikistan an eben diesem Ort bei einer Berlinale Anno Dunnemals. Manchmal wächst solches Untertauchen ja über die Jahre immer weiter aus dem Korallenriff des Unterbewussten heraus – und sei es nur, weil man stolz darauf ist, es sich getraut zu haben. Als Konzertgänger bin ich immerhin mutiger als vom Sprungturm.

    Danke und bis zum nächsten Sprung ins kalte Wasser!

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