Übermorgendlich: „Die Stadt ohne Juden“ mit Musik von Olga Neuwirth

Bei diesem beklemmenden, befremdenden Filmdokument werden die Zeitfragen, welche das Festival MaerzMusik sich derart wortreich-allzu wortreich ins Thinking konzipiert hat, mal fürchterlich sinnfällig: Die Stadt ohne Juden, ein österreichischer Stummfilm von 1924 nach einem 1922 erschienenen Roman von übermorgen von Hugo Bettauer. Jahrzehnte verschollen gewesen, erst Anfang der 1990er Jahre in einem niederländischen Archiv und dann 2015 auf einem Pariser Flohmarkt wiedergefunden, mit Hilfe von 700 Privatpersonen per Crowdfunding vom Filmarchiv Austria restauriert, während in Europa die Flüchtlingskrise gärte und Politiker in Österreich und den USA Wahlen gegen Flüchtlinge gewannen. Die österreichische Komponistin Olga Neuwirth hat eine ambitionierte, sinnliche, kluge und dennoch teils problematische Musik dazu geschrieben, die jetzt auch in Berlin aufgeführt wurde, im Haus der Berliner Festspiele.

Denn natürlich ist dieses Filmdokument für heutige Zuschauer aufs Heftigste aufgeladen mit endlosem Grauen, mit dem Wissen von den Verbrechen, die dann „übermorgen“ gegen die europäischen Juden verübt werden sollten. Aus dem Danach wirkt dieser von Hans Karl Breslauer inszenierte Davor-Film sowohl visionär als auch verstörend naiv: Ein Land in der Krise, der Kanzler lässt die Juden ausweisen, um dem aufgebrachten Volk zu gefallen; darauf geht es erst recht bergab, die Konditoreien werden zu Bierhallen umgewidmet, in denen dumpfe Männer gemeinsam aus riesigen Krügen trinken, die Pariser Couture-Geschäfte werden zu tumben Lodenbutzen; so dass man am Ende lieber die Juden zurückholt, der Bürgermeister begrüßt den ersten Remigranten mit Mein lieber Jude. Unfreiwillig droht diese naive Dystopie freilich die antisemitischen Denkmuster zu bestätigen, dass die Juden an allen Hebeln der Welt säßen, zumal in der Hochfinanzwelt; und der Film bedient sich auch bei bedenklichen Stereotypen und Klischees. Und die entscheidende Parlamentsabstimmung zugunsten der Vertriebenen wird hier auch von einem maskierten, listigen Juden manipuliert.

Aber welche Messlatte legt man an diesen Film an? Doch wohl die einer gewissen „Unschuld“ und guter Absichten. Und auch die Tatsache, dass es sich in erster Linie um einen Unterhaltungsfilm handelte – den Versuch einer temporeichen Groteske, die Klischees zum Zwecke der Komik grell überzeichnet. Man könnte sich dazu eine ebensolche Musik vorstellen, temporeich, von schwarzer Komik, voller Sarkasmus; in so einem Young-Schostakowitsch-Sound, der ja auch in die Mitte der 1920 gut passen würde.

Olga Neuwirths vielschichtige, wunderschöne Musik aber verstärkt noch die gewaltige Aufladung dieses, mitunter etwas unbedarft inszenierten, Films. Vielleicht kann das guten Gewissens nicht anders sein, aber beim Sehen und Hören ist es manchmal schwierig. Das zehnköpfige Ensemble PHACE spielt unter Leitung des spanischen Dirigenten Nacho de Paz, und der Klang ist wesentlich geprägt durch Verstärkung und elektronische Zuspielungen (Klangregie Alfred Reiter). Diese visionären Klangfläche passen hervorragend zu den immer wieder eingeschnittenen Massenszenen des Films, dem Volk in Aufruhr etwa oder der bedrängten jüdischen Menge in der Synagoge, bei deren Anblick die Musik von ganz fern zu kommen scheint. Zum Gehampel der Antisemiten sind manchmal zerfetzte Blaskapellen zu hören. Bei der mitunter langatmigen Lustspieligkeit des Films aber (es gibt mehrere „arisch“-jüdische Paare auf allen gesellschaftlichen Ebenen) stößt die facettenreiche Musik an die Grenzen, weil sie so viel komplexer ist als das Geschehen. Einige Kontrapunkte funktionieren fein, etwa wenn ein reduzierter Saxophonklang zum dollen Nachtleben-Halligalli vor sich hin zirpeliert. Oder wenn Londoner Finanzjongleure zu einem schräg verzerrten Rule Britannia ihre Investments abwinken. Aber oft droht die facettenreiche, auch kunstvoll zerfahren wirkende Musik die (weniger kunstvolle) Zerfahrenheit des Films noch zu verstärken, was dann insgesamt zu einem fatal hektischen Eindruck führt, der nicht mehr produktiv ist.

Aber wie tief sich manches in diesem Film eingräbt, einen erschüttert! Drei gutgelaunte Passanten, die einem alten Juden immer wieder den Hut vom Kopf schlagen. Und vor allem natürlich die Bilder der im Fußmarsch abgeführten Juden, von Soldaten mit langen Gewehren bewacht; ein verzweifelter blinder Greis, der seine armselige Hütte verlassen muss und noch mit der Hand über den Türrahmen streicht; ein anderer, der etwas Heimaterde in sein Taschentuch wickelt. Dazwischen irritierende Heiterkeit, wenn die dicke „arische“ Köchin ihrem stets gutgelaunten Isidor einen Haufen Fleischwürste mitgibt.

Auch filmisch eindrucksvoll ist das Ende des antisemitischen Abgeordneten Bernart, gespielt von Hans Moser in einer seiner ersten Filmrollen: Der landet in seinem antisemitischen Wahn schließlich in einer an den „Spiegelgrund“ erinnernden Nervenheilanstalt, in einer nach Caligari-Vorbild eingerichteten Irrenzelle, verspottet von seinen Judendämonen, sozusagen judensternhagelvoll. Dass der Wiener „Spiegelgrund“ später zum Synonym für die Verbrechen der NS-Medizin wurde, ist eine weitere entsetzliche „Pointe“ von übermorgen.

Vor der Filmaufführung gab es noch eine einstündige Lesung aus Bettauers Romanvorlage durch die Schauspieler Josef Bierbichler und Samuel Finzi. Bettauer wurde kurz nach der Verfilmung seines Romans von einem jungen Nationalsozialisten ermordet, nicht nur das macht seinen Fall schrecklich und lehrreich. Im Gesamtablauf des Abends war die vorhergehende Lesung freilich etwas viel; so eindrucksvoll Bierbichlers abgründiges Porträt des Bundeskanzlers auch ist, der die Ausweisung der Juden begründet, gegen die er persönlich überhaupt nichts habe, ganz im Gegenteil. Fürchterlich aktuell wirkt diese höllische Unschuldsmiene.

Filmarchiv Austria zur „Stadt ohne Juden“ORF-Beitrag mit Filmstills und Ausschnitten — Lesenswerter Wikipedia-Artikel

Zum Filmkonzert / Zur MaerzMusik / Mehr über den Autor  /  Zum Anfang des Blogs

Ein Gedanke zu „Übermorgendlich: „Die Stadt ohne Juden“ mit Musik von Olga Neuwirth

Schreibe einen Kommentar