Vergessen alles Geschwurbel, als die Musik beginnt. Genauer gesagt: als man merkt, dass sie längst begonnen hat. Denn zwei Arten von Geschwurbel stehen Wache am Tor zur MaerzMusik, dem ehemaligen Festival für neue Musik, das sich seit drei Jahren Festival für Zeitfragen nennt. Durch dieses schröckliche Tor muss am Donnerstag auch das Eröffnungskonzert im Weddinger silent green Kulturquartier, wo Catherine Christer Hennix‘ Minimalismus-Mysterium The Electric Harpsichord (1976, Neufassung 2017) im Zeichen des Nur erklingt.
Die eine Art ist das Kuratorengeschwurbel, das nicht vor Sätzen wie diesen zurückschreckt (Patienten mit Schwatzose-Unverträglichkeit mögen den folgenden Absatz überspringen):
Die zehn komponierten Abende, aus denen MaerzMusik besteht, reflektieren Anliegen, die mit dem Leben der Gegenwart zu tun haben – künstlerische Anliegen insbesonders. In chronologischer Reihenfolge beschäftigen sie sich mit klanglicher Immersion, Marginalisierung, Rassismus, Homophobie, Kolonisierung, Psychogrammen westlicher Gesellschaften, der Normativität künstlerischer Praktiken, Gender, Umwelt- und Finanzkrisen, Ungleichheit, spekulativer Geschichtsschreibung, Gedächtniskulturen, Science Fiction, spekulativer Narration, „multispecies feminism” , Mystizismus, Kollektivität, Befreiung, Spiritualität und der Wahrnehmung von Zeit, um nur die wichtigsten zu nennen.
Die andere Art von Geschwurbel ist das Summen und Brummen des Publikums, das im silent green, einem ehemaligen Krematorium, auf die Musik (vulgo klangliche Immersion) wartet. Es lässt sich gut warten in dieser mystischen Kuppelhalle, achteckig wie die karolingische Pfalzkapelle im Aachener Dom. Ein großartiges Kulturhaus hat Berlin wieder mal bekommen; neulich spielten hier Musiker des RSB Triosonaten von Zelenka. Bevor man hineindarf, muss man allerdings, als machte man eine Zeitreise zur Revolutionsspießerin Jutta Ditfurth (die sich vor Radioaktivität an den Schuhsohlen fürchtete), erstmal die Schuhe ausziehen. Zumindest wenn man sich auf die Teppiche in der Mitte des Raumes setzen, stellen, legen will. Wer beschuht bleiben möchte, findet Platz auf Stühlen am Rand und auf der Galerie. Der Konzertgänger zuckt zusammen, als seine Nachbarin sich angesichts der Teppiche über den mohammedanischen Aufbau mokiert und grollend in der FAZ zu lesen beginnt. Leute trifft man bei so einem Festival für Zeitfragen…
Vermischt mit dem schwurbeligen Klangteppich aus Stimmen, schwirrt die ganze Zeit eine Art Orgelton durch den Raum (leider nicht vom Aussegnungsharmonium auf der Galerie, das man gern einmal einbezogen hören würde). Die Musikerin Catherine Christer Hennix sitzt hinter ihrem Keyboard, im Rollstuhl, sehr gebrechlich wirkend, in einem Kapuzenschleier und großen Pantoffeln; daneben Stefan Tiedje barfuß am Computertisch: zwei unverwüstliche Althippies der unaggressiven Avantgarde. Ein Lümmel auf der Galerie klatscht fordernd, dass das Konzert doch endlich beginnen möge, wir haben nicht ewig Zeit.
Und dann ereignet sich ein Wunder. Man begreift, dass das Konzert längst da ist. Während der Ton langsam anschwillt, wird das Gerede ganz allmählich leiser; umgekehrt wie an den Schlüssen gewisser später Beatles-Songs. Sogar die Nachbarin des Konzertgängers packt schließlich die FAZ weg. Der tiefe Grundton dreht sich endlos voran, wie eine kosmische Schraube. Obwohl alle anderen Klänge darüber zu liegen scheinen, wirkt es, als drehten sich die Figuren, Pirouetten und Arabesken, die Christer Hennix auf ihrem Keyboard improvisiert, um diese kosmische Schraube herum. Das Faszinosum dieses Klangs ergibt sich wohl aus der reinen Stimmung, mit der Christer Hennix arbeitet, ein Sound voller Mikrotöne, der zugleich überirdisch tonal scheint.
Wie auch immer: Tatsächlich vergisst man beim Hören jedwede immersive Klangpraxis und wird von tiefer innerer Ruhe ergriffen. (Das kann niemand besser beurteilen als der Konzertgänger, der viele Stunden tiefster innerer Unruhe hinter sich hat.) Wenn man die Augen schließt, wenn man sich in diesen Sound fallen lässt. So müssen sich die Sufis fühlen, denkt der Konzertgänger.
Der Lümmel auf der Galerie hatte Unrecht: Wir haben ewig Zeit.
Wer jedoch nicht loslassen mag oder kann, für den wird es schwierig, sich von den Klangereignissen selbst bei der Stange halten zu lassen. Nicht wenige gehen vorzeitig, auch die FAZ-lesende Mohammedaner-Muffeline.
Siebzig Minuten, nachdem das Geschwurbel der Welt versunken ist, kehrt es im Klatschen zurück.
Jede Menge Geschwurbel dräut bei den vielstündigen Diskursen, die MärzMusik unter dem Titel Thinking Together zum Thema Decolonizing Time anbietet; für Erzmasochisten auch als Livestream. Das musikalische Programm ist dagegen eine Wundertüte, in der sich mancher Schatz finden könnte: weitere Veranstaltungen mit Christer Hennix etwa, ein Konzert von professionellen Nicht-Sänger*innen aus Antwerpen mit Musik eines obskuren Komponisten aus dem 15. Jahrhundert (18.3.), Veranstaltungen mit dem Arditti Quartett und Jennifer Walshe (19.3.), Musik des betörenden Gérard Grisey (24.3.), ein Doppel mit dem Sonar Quartett in der alten Akademie der Künste im Hansaviertel (25.3.) oder das irre 30-Stunden-Konzert The Long Now im Kraftwerk Berlin zum Abschluss (25./26.3.)
Erfahrungsgemäß sind, wenn man ein paarmal hingeht, bei MaerzMusik sowohl Erleuchtungserlebnisse als auch Totalausfälle garantiert.
Sehr schön beschrieben