13.3.2013 – Ra(s)tlos: Winterreisen von Elfriede Jelinek und Bernhard Lang bei MaerzMusik

Ein mysteriöser Schwerpunkt im überaus bunten Programm der diesjährigen MaerzMusik ist die Winterreise. Bevor am Dienstag der einzigartige Ian Bostridge im Kammermusiksaal den Liederzyklus singt, gab es am Sonntag im Haus der Berliner Festspiele zwei Variationen von unsicherem Verwandtschaftsgrad zu Schubert.

Elfriede Jelinek ist, wie die Komponistin Olga Neuwirth betont, kein männlicher Nobelpreisträgeranwärter, sondern eine weibliche Literaturnobelpreisträgerin, wird aber trotzdem oder gerade deshalb viel und meist von Männern geschmäht. Aus ihrem Theaterstück Winterreise (2011) liest die Schauspielerin Sophie Rois, die stets als fulminant bezeichnet wird, was hiermit ebenfalls geschieht: Sie schmollt, ruft, raunt, höhnt und jammert, dass es eine Freude ist, quetscht jede mögliche Pointe heraus. Nur leiern tut sie im Grunde nie. So scheint Jelineks rastlose Litanei, in der die Leierfrau ihre eigene Biografie ebenso plündert wie die ZIB-Nachrichten, mal phänomenal assoziierend, mal nervig kalauernd, manchmal fast zu unterhaltsam. Zwischendurch gibt es Winterreise-Lieder, gesungen von Julius Patzak; obwohl aus einem scheppernden Ghettoblaster, löst die Musik kurioserweise im Publikum sofort Hustenreflexe aus. Gute Nacht erklingt zweimal, zu Anfang und Ende, Sophie Rois singt am Schluss ein bisschen mit. Indem aber das Gutenachtlied, das Schubert so verstörend an den Anfang gestellt hat, dorthin zurückkehrt, wo es ja eigentlich hingehören würde, nämlich an den Schluss, wirkt diese Winterreise am Ende irritierend konventioneller als das Original.

Der zweite dubiose Verwandte ist The Cold Trip aus der Serie Monadologie des österreichischen Komponisten Bernhard Lang, über den man im Programmheft erfährt, dass er als Komponist gern in großen Zyklen in die Tiefe des Details denkt und die Simulation musikalischer Automatismen erforscht. Nun ist die großspurige Neue-Musik-Salbaderei ein Ärgernis für sich und sollte keinesfalls gegen einen einzelnen Komponisten gewendet werden. Aber dem Konzertgänger, der raffinierte Texturen zwar nicht intellektuell durchdringt, aber hörend genießt, bleibt Langs dürre Musik mit ihren kargen Wiederholungen und plakativen Abbrüchen verschlossen. Zuerst vom Aleph Gitarrenquartett, dann von Mark Knoop an Klavier und Laptop begleitet performen die Stimmakrobatinnen Sarah Maria Sun und Juliet Fraser eindrucksvoll den ins Englische übersetzten Text Wilhelm Müllers. Je länger, desto deutlicher hörbar werden gewisse Schubert-Module. Aber im Mittelpunkt steht die Hervorhebung der Winterwörter: cold, freeze, shiver, despair, sting zittern, bibbern und stechen die Stimmen, und wenn es crow heißt, krächzt Fraser krähenmäßig. Das ist lustig, aber auch so text(fetzen)nah komponiert, dass im Vergleich dazu das Wort-Ton-Verhältnis bei Richard Strauss geradezu abstrakt wirkt.

Das Publikum scheint aber großteils enthusiasmiert von diesem psychedelischen Palimpsest-Sampling.

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12.3.2016 – Unkanarisch: Computerkompositionen bei MaerzMusik

Wenn Computer mittlerweile nicht nur in Trivialspielen wie Schach, sondern sogar im verzwackten Go humane Champions ausknocken, warum sollen sie nicht auch komponieren? Bei MaerzMusik stellen menschliche Musiker am Samstag im Haus der Berliner Festspiele mehrere Werke vor, die von Maschinen komponiert wurden: Zunächst in einem historischen Exkurs ein von nahezu antiker Informatik ersonnenes Streichquartett, die Illiac Suite von 1957. Offenhörlich wurde das Programm mit diversen Streichquartetten und Harmonielehrbüchern gefüttert, die ersten Sätze sind diatonisch, die hinteren chromatisch. Da denn doch das gewisse musikalische Etwas fehlt, beschäftigt man sich wie beim lustigen Zitatesuchen damit, den Input herauszuhören und sich über die Individuierung durch die menschlichen Musiker zu freuen, vier Streicher vom Ensemble KNM Berlin.

Da sind die aktuellen Elaborate des Iamus Computers des Biomimetischen Instituts der Universität Málaga schon eine andere Herausforderung. Man erfährt, dass Iamus seine Werke generiert, indem er, evolutionäre Prozesse simulierend, musikalische DNA mutiert – was auch immer das heißen mag, das Hörerlebnis ist verstörend. Der Pianist Gustavo Díaz-Jerez spielt (mit Papiernoten und Umblattlerin) mehrere Stücke am Konzertflügel vor, die ziemlich komplex dahinfließen. Offenbar, sagt das Ohr, in den Jahren nach 1900 komponiert. Zweifellos hielte man es für ein sehr atmosphärisches Stück, wenn Díaz-Jerez, der auch Komponist ist, es als sein eigenes Werk ausgäbe, vielleicht mit dem Titel Noche Canaria. Aber wir wissen ja, woher es kommt; zumindest ungefähr, das mit der Simulation evolutionärer Prozesse und Mutation musikalischer DNA haben wir nicht verstanden.

Man kann nun die Augen schließen und sich als Ort dieser Musik eine Planet-Solaris-Cogitare-ergo-essere-Sphäre vorstellen. Oder als Urheber einen qua Mysterium depersonalisierten Skrjabin. Aber das hilft nur bedingt. Obwohl der Musikfrankenstein der Universität Málaga Francisco José Vico überaus sympathisch wirkt und zur Diskussion einlädt, setzt sofort nach dem letzten Ton eine geradezu panikartige Flucht des Publikums ein, die beweist, dass dieses Konzert (ex negativo) an etwas Entscheidendes rührt, was Musik selbst in ihrer avantgardistischsten Form den meisten Menschen bedeutet: Kommunikation mit einem Urheber. Man begreift schlagartig, wie sich ein Mensch in Konzerten fühlen muss, dem (wie etwa Robert Musil) der Rezeptor für die kommunikative Qualität von Musik völlig abgeht: gewaterboarded. Ob sich Díaz-Jerez‘ Vorschlag erfüllen wird, der Tondichter der Zukunft solle Iamus ganz pragmatisch als kompositorisches Tool benutzen, bleibe dahingestellt.

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11.3.2016 – Konjunktivisch: Marino Formenti eröffnet die MaerzMusik

Dieses Konzert treibt dem Konzertgänger den Griesgram aus, der tief in ihm steckt: Sich einlassen oder gleich abhauen heißt die Devise, wenn der Pianist Marino Formenti die diesjährige MaerzMusik eröffnet, zum zweiten Mal mit dem Untertitel Festival für Zeitfragen. Dem Kritiker der Berliner Zeitung hat bereits die Lektüre des Programms die Laune verhagelt, Casus knacksus seines Tadels: zu viel Gelaber, zu wenig Musik. Nun hat sich auch dem Konzertgänger schon während seines geisteswissenschaftlichen Studiums das tolle Treiben der Diskurserotiker nie erschlossen, darum meidet er die umfangreiche Thinking Together-Konferenz des Festivals zum Thema Zeit und Digitalisierung (für Diskursmasochisten auch als 12stündiger Livestream) wie der Teufel das Weihwasser.

Aber der sympathische Pianist Marino Formenti, der das Eröffnungskonzert (vulgo Opening: Time to gather) im Haus der Berliner Festspiele gibt, ist alles andere als ein theorieseliger Plapperfroh. Wenn er in seinem italienisch gefärbten Wienerisch zum Publikum spricht, dann mit der Aufforderung, sich mal locker zu machen und bittebitte zwischendurch etwas zu trinken zu holen (aber, wir sind ja in Deutschland, nur Becher in den Saal, keine Gläser). Die Hörer sitzen nicht im Saal, sondern auf der Bühne ums Klavier, auf Sesseln, Sofas, Hockern, Bänken, dem Boden und weit verteilten Matratzen. Digitalisiert ist hier nichts, nur die Zeit dehnt sich: Es gibt kein festgelegtes Programm, zum Start ertönen die unterarmdreschende 6. Sonate von Galina Ustwolskaja und das ätherische Wiegenlied des alten Franz Liszt. Für das weitere Programm nimmt Formenti Wünsche entgegen, er hat die mitgebrachten Noten über mehrere Tische ausgebreitet; und das Publikum ist auch eingeladen, ans Klavier zu kommen und etwas vorzuspielen. Am Anfang zieht es sich, einige Interessierte schwarwenzeln ums Klavier, aber keiner traut sich so recht; man wäre schon dankbar, wenn jemand den Flohwalzer darböte.

Doch wer den inneren Griesgram überwindet und nicht abhaut, sondern abwartet und Tee trinkt (oder Sekt), der wird belohnt. Formenti spielt sehr wandelbar und zum Glück nicht als Hintergrundbeschallung, er bittet das relaxte Publikum während der Stücke um Ruhe. In größeren Abständen erklingen eine Sarabande von J. S. Bach, eine heftige Clusterbrumme von Giacinto Scelsi (im Unterschied zu Ustwolskajas spröde donnernder Hardcore-Spiritualität ein südländisch feuriges Klanggewitter, bei dem allerdings den Hörern auf der Matratze unter dem Flügel das Lachen vergehen dürfte), John Lennon, ein paar Takte Griechischer Wein,  eine Scarlatti-Sonate, eine Geschwind-Gnossienne von Eric Satie, introvertierte Préludes von Gaspard le Roux und dann wieder Cluster, diesmal frei nach Smells like Teen Spirit von Nirvana.

Als Formenti gegen 22 Uhr die Hörer für seine Verhältnisse fast unwirsch auffordert, aufzustehen und herumzugehen, zu trinken, zu flirten, sonst könnt ihr gleich in die Philharmonie gehen, entspannt sich der Konzertgänger zähneknirschend und legt sich auf eine Matratze in der Seitenbühne, was tatsächlich recht angenehm ist. Mittlerweile ist auch das Eis geschmolzen und einige Gäste setzen sich ans Klavier, offenbar ist mancher (Semi-)Profi im Publikum. Ein älterer Syrer namens Mohammed singt a cappella ein wehmütig wirkendes melismatisches arabisches Lied, später wagt sich ein todesmutiger Herr mit brüchiger Stimme an den Leiermann aus der Winterreise. Viel Bach, zwischendurch kann man rumgehen und die Bühnenbeleuchtung inspizieren oder Wein trinken; die Herren von der Qualitätspresse gucken weiterhin sauertöpfisch.

Durchaus unspontan und akkurat vorbereitet ist aber der Höhepunkt des Programms, den Mario Formenti kurz vor 23 Uhr spielt, das 30minütige Stück DW 12 Cellular Automata for solo piano (danke an Dominique Schweizer für den Titel) von Bernhard Lang zwischen Free Jazz, Nocturne und Klaviertechno, in dem irgendwann in einer Clusterkanonade auch die Fanfaren der Hammerklaviersonate auftauchen.

Ein ziemlich konjunktivisches, aber sehr sympathisches Konzert. In den nächsten Tagen gibt es vom Computer komponierte Musik und einen Winterreise-Schwerpunkt (Schubert ist immer zeitgenössisch), außerdem ein nächtliches Schlafkonzert und einen 30-Stunden-Gig.

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19.9.2015 – Blau: Stockhausens ‚Erzengel Michael‘

Bei Stockhausen ist es wie weiland bei Wagner, man muss vom Zirkus um die Person absehen, um die Musik wahrzunehmen. Als die Frau des Konzertgängers Stockhausen, Opernzyklus, LICHT hört, befürchtet sie esoterischen Schmu in Überlänge, mindestens sieben Stunden atonale Geheimlehre, und weigert sich glattweg mitzukommen. (Dabei liebt sie den Ring.) Erst als sie erfährt, dass es nur eine gute Stunde geht, schwingt sie sich aufs Rad.

Das Ensemble Musikfabrik unter Ilan Volkov spielt im Haus der Berliner Festspiele ein Drittel eines Siebtels von LICHT, nämlich den II. Akt aus dem DONNERSTAG plus eine Art Ouvertüre sowie Nachspiel vor der Tür. Mit diesen Stücken begann Stockhausen Ende der 70er Jahre seine Arbeit an dem Zyklus. Es ist eine gute Entscheidung, das Stück über die spirituell-musikalische Weltreise des inkarnierten Erzengels Michael (die Stockhausens Curriculum Vitae entspricht) von der heiteren Seite zu nehmen: Schon als der Trompeter Marco Blaauw im drolligen Ritterwams auftritt, weiß man, dass die zahlreich erschienenen Kinder hier richtig sind. Der Posaune spielende Luzifer erscheint mit Umhang wie der Teufel im Kasperletheater. Vor allem aber ist die Musik so sinnlich und aufregend, dass sie unverbildete Hörer unmittelbar anspringt.

Featured imageIm Grunde ist ein fabelhaftes, hochvirtuoses Trompetenkonzert mit einigen szenischen Elementen zu erleben. Die Farbe Blau, die Michael zugeordnet ist, dominiert. Die Stationen der Reise werden mit simplen Requisiten dargestellt: Dom für Köln, siebenstrahlige Krone für New York, Bonsaibäumchen für Japan, Holzmaske für Bali usw. Musikalisch ist von serialistischen Umtrieben über gamelanige Weltmusik und erotische Harfenarpeggien bis zu elektronischer Echokunst alles dabei. Nur gesungen wird in dieser Oper nicht, auch nicht gesprochen, höchstens gehaucht, gepustet, geploppt, in Japan auch murmelnd bis 13 gezählt… Ein Klarinette spielendes Schwalbenpärchen sorgt für eine buffoneske Ebene. Das Bassetthorn des überaus reizenden Sternenmädchens (Merve Kazokoğlu) erklingt zunächst aus jenseitigen Sphären und rettet Michael vor dem Tuba-Drachen, doch dann mündet die Begegnung in eine ziemlich irdische Schäkerei zwischen den Instrumenten. Einen Augenblick muss der Konzertgänger ans Liebesgeplänkel im Heldenleben denken, einem seiner großen Ungunststücke; nein, lieber Stockhausen als Strauss.

Eins, zwei, drei im Sauseschritt folgen noch Verspottung, Kreuzigung, Himmelfahrt; etwas verquast ist es schon. Auch der nicht sehr beeindruckenden Elektronik merkt man an, dass Stockhausens Komposition schon fast 40 Jahre auf dem Buckel hat. Aber es ist herrliche Musik. Findet auch die Frau des Konzertgängers.

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Ensemble Musikfabrik