Sachgemäß: Arditti Quartett spielt Boulez

Unsachgemäße Assoziationen bei dieser Reise ins Äon des musikalischen Erz-Avantgardismus: Hat der Nachkriegs-Serialismus nicht ein bissl was mit dem Nachkriegs-Brutalismus in der Architektur gemeinsam? Werkstoff und Textur sind zwar grundverschieden. Aber beides sind solche Nullpunkt-Dinger, die man fasziniert anstaunt, ohne dass es recht heimelte. In Gegenwart und Zukunft möchte man’s schon gar nicht verlängern. Aber gut, dass es mal da war. Und ist; bloß nicht alles abreißen!

Begrüßenswert also, dass das Arditti Quartett sach- und fachkundig den vervollständigten Livre pour quatuor von Pierre Boulez aufführt, logischerweise im Pierre-Boulez-Saal. Dinosaurier oder Klassiker, fragt sich der Konzertgänger zuvor; und weiß es danach immer noch nicht.

23 Jahre war Boulez und gerade noch Jesuitenschüler gewesen, als er 1948/49 dieses exorbitante Ding nicht schuf (denn das klänge nach romantischer Intuition), sondern schrieb. Erarbeitete. Es blieb ein Leben lang sein Schmerzenskind, das er weiterbearbeitete, in Donaueschingen teilaufführen ließ, zwischendurch für ungültig erklärte, nachdem er es orchestriert hatte.

Aber das er eben nie komplettierte, obwohl ihn der Quartett-Primarius Irvine Arditti, wie er im Bühnengespräch erzählt, jahrelang damit bedrängte und verfolgte. So wurde der fehlende vierte von insgesamt sechs Sätzen nach Boulez‘ Tod von Philippe Manoury und Jean-Louis Leleu fertiggestellt. Es lässt sich offenbar weitgehend berechnen und ableiten, wenn man sich nur sachgemäß in die vorhandenen Parameter hineinzufuchsen versteht; dennoch nimmt Manoury im Gespräch einmal das verbum diaboli Intuition in den Mund.

Eine veritable Uraufführung also. Gleichzeitig vom Arditti Quartett im Boulezsaal und dem Diotima Quartett in Paris. Da weht einen sowas an, was Welthistorisches. Und was Deutsch-Französisch-Partnerschaftliches, vive l’Europe. Im Publikum sitzt auch Mark Andre, der Ästhet des Verschwindens, in Pullover und dickem Mantel, bei draußen fast 25 Grad; er ist wahrlich nicht ganz von dieser Welt. Oder erkältet.

Und was weht einen hörenderweise an? Es sei das wohl schwerste Streichquartett der gesamten Literatur, sagte Enno Poppe. Für die Musiker oder für die Hörer oder für beide?

Für einen Klangeindruck hier der dritte Satz in einer Aufnahme des Quatuor Parrenin (Arditti spielt im Boulezsaal diesen dreiteiligen Abschnitt in anderer Reihenfolge):

Das Arditti Quartett sitzt im Quadrat einander zugewandt, wie weiland die Prä-Beethoven-Quartettisten beim adelshäuslichen Musizieren. Das ist fürs Musizieren günstig, fürs Hören weniger, da man immer einem Musiker im Rücken sitzt (im Konzertgängerfall dem Bratscher). Die Musiker schauen sich allerdings bei dieser vertrackt akribischen Abzähl-Musik so gut wie nie an, da sie vertrackt akribisch zählen müssen. Aber Kommunikation ist ja mehr als Blickkontakt.

Erstaunlich, dass Boulez‘ hyperrationale Musik derart Vertrauenssache ist. Wer nicht gerade einen Serialismus-Lehrstuhl bekleidet, der kann nur darauf hoffen, dass die vier Musiker nicht spaßeshalber alles von hinten nach vorn spielen. Oder aus Jux jeden siebten Ton weglassen. Oder dass die frickligen Pizzicascaden so und nicht anders korrekt sind. Der Fülle der Gedanken wird man kaum teilhaftig. Hier ein Zupfen, dort ein Zittern, geradezu zerfasert wirkt das. Das Wachstum der Klangzellen spürt man mehr als dass man es nachvollziehen kann. Die Kunst der Fuge ist ein Divertimento dagegen.

Aber es klingt alles fürchterlich schlüssig.

Und andererseits doch immer wieder verblüffend sinnlich und elegant. Michel Foucault soll ja von Boulez‘ determinierter Musik sexuell erregt worden sein (Alex Ross, The Rest Is Noise, S. 403). Dafür ist der Konzertgänger zu simpel gestrickt, der denkt in puncto Erotik höchstens daran, dass gleichzeitig Yuja Wang im Kammermusiksaal spielt.

Horribile dictu aber: Es klingt oft wunderschön. Tausend Klangpunkte verdichten sich immer wieder zu Eilanden, die gleich darauf verschwinden. Treten, was sehr selten geschieht, plötzlich langgestrichene Töne auf, hält man den Atem an. Originelle Klangereignisse, auch wenn sie nichts bedeuten dürfen. Obwohl man sowohl Zorn als auch Zärtlichkeit zu hören meint. Denn es ist ja eben doch keine pure Mechanik, mit der der Komponist die Instrumente behandelt, die einander umflirren und umhauchen, an- und abstoßen, ja küssen. Andeutungen von debussyschem Klangsinn, der später bei Boulez noch stärker aufblühte.

Kann man Boulez begreifen aus diesem Paradox von Härte (des fanatischen Konstruktionsdenkens) einerseits und Zärtlichkeit (dem Klang gegenüber) andererseits?

Und noch eine unsachgemäße Assoziation: Es ist gewiss ein völlig anderer Tribe von Musik, aber gibt es nicht trotzdem eine Verwandtschaft zur zärtlichen Härte, mit der der vor kurzem verstorbene Cecil Taylor einen Bösendorfer in ein Ding aus 88 verschieden gestimmten Trommeln verzauberte?

Aber vielleicht sind solche unsachgemäßen Assoziationen bloß Denk- und Studierfaulheit. Und ist es auch bloß Faulheit, wenn’s einem zwischendurch immer mal wieder reicht mit Boulez‘ hyperdeterminiertem Gezupfe. Und man froh ist, dass der Livre pour quatuor nicht das Ende der Geschichte des Streichquartetts ist. Sondern ein weiterer Anfang.

Weitere Kritik: Schlatz

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Ein Gedanke zu „Sachgemäß: Arditti Quartett spielt Boulez

  1. Ich teile Ihre Vermutung, dass das Streichquartett vielleicht nicht das faszinierendste Werk von Boulez ist, finde ansonsten ja beinah alles von Boulez auf Debussy-(Mozart?)-Niveau. Wendebergs Soloklavierabend neulich am gleichen Ort war entzückend.
    Erstaunlich, wie Sie im vermeintlichen Plauderton Grundprobleme und Funktionsweisen des Serialismus aufzeigen und wie man dabei in den Bereich der Musikphilosophie gelangt ohne dass mans gleich merkt.

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