Schlangenbeschwörend: Kirill Petrenko, Yuja Wang, Berliner Philharmoniker mit Dukas, Prokofjew, Franz Schmidt

Obwohl Kirill Petrenko ja mal einige Jahre Generalmusikboss der Komischen Oper war, haben die Auftritte des zukünftigen Chefs der Berliner Philharmoniker in Berlin derzeit etwas Unalltägliches, ja Rar-Auratisches. Und so ist auch dieses merkwürdige bis verschrobene Programm unalltäglich, rar, auratisch.

Verschroben wirkt aus heutiger Hörsicht auch der Versuch des Franz Schmidt, anno 1932 noch einmal diese symphonische Riesenschlange (Hanslick über Bruckner) zu beschwören. Die Kompositionen eines anderen Riesenschlangensymphonikers, Wilhelm Furtwängler, werden ja eigentlich gar nicht mehr gespielt. Schmidt immerhin ab und an; etwa vor knapp zwei Jahren vom tüchtigen Sibelius-Orchester. Den Rat des damaligen Dirigenten Stanley Dodds, der im Hauptberuf zweiter Geiger bei den Berliner Philharmonikern ist und heute Abend vor der vorderen Harfe sitzt, wird Petrenko aber nicht gebraucht haben, der hat Schmidts 4. Sinfonie C-Dur schon lang im Repertoire. Hier eine Aufnahme mit dem WDR-Orchester:

Die eröffnende, einsame Trompete (Gábor Tarkövi) hat was Ewigkeit- und Totenreichbeschwörendes: Der fast 60jährige Schmidt wob ja in die Sinfonie ein Requiem für seine gestorbene Tochter ein. Aber man kann die Trompete auch als Beschwörerin der Riesenschlange Großsinfonie hören, an der sich Schmidt noch einmal versucht – konservativ, aber nicht borniert (er führte als Dirigent auch Schönberg auf, ohne sich als Komponist von ihm beeinflussen zu lassen).

Die symbolische Kraft der einsamen Trompete zwingt den Konzertgänger wieder zur Assoziation mit The Unanswered Question von Charles Ives, mit dem Schmidt stilistisch natürlich nullkommanix zu tun hat. Vielmehr sind Brucknersound und Mahlerschwelgen evident. Der absolute Höhepunkt ist etwa da, wo er auch bei Bruckner wäre, im Adagio. Inklusive Beckenschlag. Danach gibts noch einen Tamtamschlag, und statt Bruckner-Triangel schnarrt die kleine Trommel.

Aber Schmidts Musik wirkt nicht epigonal, sondern durch tiefen Schmerz und hohes Können hinreichend individuiert. Einen hypnotisierenden Sog hat dieses absteigende Quartenkettendings, das trompeten-einsam am Anfang steht und sich durchs Werk und alle Klanggruppen zieht, bis es am Ende wieder trompeten-einsam allein auf weiter Flur steht. In ewiger Einsamkeit oder am Tor zur Ewigkeit. Wenn zwischendurch das Englischhorn (Dominik Wollenweber) das Thema aufnimmt, hats schalmeiigen Tristan-dritter-Aufzug-Flair.

Dass bei Schmidt die vier Sätze, deren Reihenfolge einer Brucknersinfonie gleicht, ineinander übergehen, intensiviert den Riesenschlangen-Charakter nochmal. Kirill Petrenko gibt dem Hörer das sichere Gefühl, dass ein durchgehender Puls dieses Werk antreibt – ein überwältigender Eindruck. Der hilft auch darüber hinweg, dass (anders als in Kopfsatz und Finale, das mit der Wiederaufnahme aller Kopf-Themen einer Reprise ähnelt) die zahlreichen Wiederholungen bestimmter grundlegender Figuren im Adagio etwas monoton wirken. Aber dieses betörend singende Cello (Ludwig Quandt)! Und toll, wie sich in diesem zweiten Satz der Trauermarsch-Rhythmus einschleicht, der dann zum Grundrhythmus des Scherzos wird.

Keine Frage, dass diese rare Sinfonie zurecht aufgeführt wird. Ob sie es aushielte, wenn man sie so oft hörte wie eine Sinfonie von Bruckner oder Brahms?

Eine weitere Rarität gabs zu Programmbeginn: Schmidts Vierte spielten die Berliner Philharmoniker zuletzt 1960 unter Kurt Wöss (Kurt who?), Paul Dukas‘ tondichterische Ballettmusik La Péri 1961 unter Ernst Ansermet. 1912 für Diaghilew geschrieben, aber von diesem nicht aufgeführt und durch das nächste Diaghilew-Ding namens Sacre du Printemps in Vergessenheit geraten. Schade, denn es ist überaus raffinierter Klangfarbenzauber. Im Pianissimo-Beginn der Streicher und dem folgenden hauchzarten Hörnereinsatz zeigt sich schon, was sich später bei Schmidt bestätigt: Die Berliner Philharmoniker sind die Berliner Philharmoniker sind die Berliner Philharmoniker. Transparent bis dort hinaus tönt das und dabei durchaus Disney-tauglich; muss also nicht immer der Zauberlehrling sein von Dukas. Man freut sich mit dem Celestaspieler Holger Groschopp, dass er kurz vor Schluss mal beide Hände benutzen darf; vorher hat er nur so fingerweise feinste Tupfer zu setzen, dass man schon denkt, die linke Hand hätte er zuhause lassen können.

Alles andere als rar ist zwischen Dukas und Schmidt Sergej Prokofjews 3. Klavierkonzert C-Dur (1921). Eher Tex Avery als Disney. Die eröffnenden Klarinetten (erst Andreas Ottensamer, dann Walter Seyfarth) wirken auch wie der Versuch einer Schlangenbeschwörung. Aber bei Yuja Wang, die im rotglitzernden Schlangenkleid auftritt, ist jeder Bändigungsversuch zum Scheitern verurteilt. Besser, sich dieser pianistischen Kobra oder Klapperschlange gleich zu unterwerfen. Sogar die klappernden Kastagnetten beim Seitenthema rechnet man ihr zu. Petrenkos kompromissloses Tempo geht sie problemlos mit. Höchstens muss sie aufpassen, das Orchester nicht zu übertönen; woher diese Kraft und wie verkraftet das der Flügel?

Da klatscht das Publikum zurecht schon nach dem ersten Satz. Dass Yuja Wang schwer von einer gewissen Härte des Anschlags wegzukommen scheint, zeigt sich im zweiten Satz, dessen Andante-Teile eher nach Spieluhr als lyrisch klingen. Interpretation oder gar Seele scheint sie als genre-widrig anzusehen. Dennoch überaus beeindruckendes Virtuosentum; und das wärs auch, wenn es in Jogginghose und Sneakers daherkäme.

Aber nichts gegen diese außerirdischen Plateau-Stiletti, wie sie in Berlin sonst nur Männer tragen! Und nur niedrige Charaktere applaudieren ad infinitum, um Yuja Wang auf diesen Schuhen immer wieder rein und rauslaufen zu sehen. Ihren Blumenstrauß schenkt sie dem entzückten Konzertmeister Noah Bendix-Balgley weiter.

Nachtrag: Im zweiten Konzert, hört man, bekam Petrenko den Strauß von Yuja Wang.

Rätselhaftes Verhältnis zwischen Prokdrei und Schmidt. Außer der Beschwörungsbläserei zu Beginn fällt einem als möglicher Zusammenhang die Tonart C-Dur ein. Und der bei naher Entstehungszeit komplette Kontrast, der auch fast was Auratisches hat. Dukas‘ Péri verweist ihrerseits auf die Schumann-Peri, die Rattle im Mai in einem seiner letzten Konzerte als Chef dirigieren wird.

Das Petrenko-Programm nochmal am Freitag und Samstag, Restkarten erhältlich; und am Freitag auch im Kino. (Wenn man bei diesen Konzert-Übertragungen nur nicht immer die Augen schließen müsste wegen der amusischen Schnitte; selbst bei Yuja Wang.)

Weitere Kritiken: Schlatz, Göbel im Kulturradio, Amling im Tagesspiegel.

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3 Gedanken zu „Schlangenbeschwörend: Kirill Petrenko, Yuja Wang, Berliner Philharmoniker mit Dukas, Prokofjew, Franz Schmidt

  1. Fand den Abend hochspannend.

    Die Programmauswahl allein lässt mich hoffen, vielleicht doch in Zukunft eher Schnittke als Schumann? Weinberg? Nielsen? Aho? Von Pettersson zu träumen wag ich mich zwar nicht – aber wenn sich mal jemand etwas besser um die Sache kümmern könnte, die im 20. Jahrhundert komponiert wurden und ein wenig unter die Rädern gekommen sind, hätte ich wirklich nichts dagegen.

    Falls die Philharmoniker und v.a. das Berliner Publikum sich drauf einlassen.

    Beim Rausgehen gestern war doch auch Irritiertes zu erlauschen.
    „Überladen“ schnappte ich beim Treppabsteigen auf, „lang“, „drückend“.

    Alles nicht meine Eindrücke, aber ich hab mich auf den Schmidt auch besonders gefreut. Ich mag das Stück, Klangfarben, Struktur, der Umgang mit dem them. Material – und das war eine feine Aufführung, die ich sicher gern in der DHC öfter mal nachhören werde.

    Bei uns auf dem Podium wurde das nervöse Jungvolk im zweiten Teil aus seinem gegenseitigen Mitteilungsbedürfnis gerissen und das Flüstern wich konzentriertem Zuhören. Wahrscheinlich nicht aus Ehrfurcht vor Schmidt sondern (vielleicht) als mehr unbewusste Reaktion auf das Dargebotene. Erfreulich, egal warum.

    Yuya Wang bekam auch gestern wieder Bravo und Klatsch-Klatsch nach dem 1. Satz. Dazu gabs ein kurzes Augenspiel von Petrenko, das ich mit „naja, nix zu machen. Weiter gehts“ übersetzen würde. Andere vielleicht anders.

    Freitag gab sie Zugabe: Prokofiev, 7. Sonate, 3. Satz.
    Das fand ich sehr gut aufgehoben in ihren Hammerkrall.. sorry… ihren Händen.
    https://www.youtube.com/watch?v=Nyfe8y0ywAQ

    Konzert vom 12. zum Nacchhören (bis zum 17. denke ich)
    http://www.deutschlandfunkkultur.de/kirill-petrenko-bei-den-berliner-philharmonikern-suche-nach.1091.de.html?dram:article_id=415336

    • Ja, ich hoffe auch auf mehr Abseitiges. Mahler, Bruckner, Brahms gehen uns dadurch doch nicht verloren.
      In der Pause hörte ich eine alte Dame, die nach Hause gehen wollte, weil sie keine Lust hatte, Franz Schmidt zu hören. Eine andere alte Dame rüffelte sie, dass sie doch offener sein solle für Unbekanntes.
      Am Donnerstag gabs keine Zugabe von Yuja Wang, außer eben diesem sehr attraktiven Rein und Rausgehen. Danke für die Links.

  2. „Ob sie es aushielte, wenn man sie so oft hörte wie eine Sinfonie von Bruckner oder Brahms?“ Da wäre ich auch gespannt. Aber ein Hoch auf Petrenko für das Programm. Das kann ruhig so weitergehen. Der Chef muss ja auch nicht immer Brahms oder Bruckner selber dirigieren. Das kann dann ruhig auch erstmal Nelsons oder Jansens der wer auch immer machen.

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