Zu den musikalischen Freudenquellen von Berlin gehören seine „Laien“-Orchester: nicht nur wegen ihres teilweise bemerkenswerten Niveaus, sondern auch wegen der ausgefallenen Stücke, die da manchmal zu hören sind. Das Berliner Sibelius Orchester führte am Mittwoch im Konzerthaus die selten, hierzulande eigentlich nie gespielte 4. Symphonie C-Dur des Österreichers Franz Schmidt (nicht zu verwechseln mit Franz Schmidt und Franz Schmidt) auf: ein 50minütiges Werk von 1932/33 voller Trauer, Träume und Tonalität. Schmidts Schmerz um seine im Wochenbett gestorbene Tochter scheint ebenso darin eingeschrieben wie die Wehmut um die Klangsprache einer untergegangenen Welt.
Der Dirigent Stanley Dodds (zugleich Geiger bei den Berliner Philharmonikern) gab dem Publikum nicht nur eine ausführliche, mit ihren konkreten Hörbeispielen sehr hilfreiche Einführung, sondern dirigierte das spätromantische, dabei tief persönliche Exorbitum auswendig.
Beginnend mit einem einsamen Trompetensolo, dessen Aura fast an Charles Ives‘ Unanswered Question (und an Miles Davis) gemahnt, entwickelt sich ein gewaltiger Fluss melancholischer Farben, mittelstimmig wie Brahms, katholisch wie Bruckner, schmerzenslüstern wie Mahler. Dem raffiniert aus absteigender Quarte und Chromatik gebauten Trompetenthema steht ein schwelgerisch sich aufschwingendes zweites Thema gegenüber, zu dem Dodds in seiner Einführung Jodeln (!) assoziierte: ein um Jahrzehnte „verspätetes“ Fin-de-siècle-Jodeln, möchte man ergänzen. Im Zentrum des Werks, dessen vier Sätze ineinander übergehen, steht ein Trauermarsch, der sich in einen herzzerreißenden Aufschrei steigert. Am Schluss wieder die einsame Trompete.
Das Sibelius Orchester stemmt diesen Koloss, trotz einzelner flatternder Töne und kleinerer Diffusitäten, mit einer beeindruckenden Leistung: souverän im Wechsel zwischen konträren Klangfarben, Härte- und Schmelzgraden der Musik, bemerkenswert sicher und ausdrucksvoll auch in den solistischen Passagen, allen voran Trompete und Cello, aber auch Horn und Englischhorn.
Vielleicht könnte Dodds diese Symphonie (mit einer Wiener Aufnahme als Argument) seinen Kollegen bei den Berliner Philharmonikern schmackhaft machen. Denn die haben für 2016/17 leider eine Saison angekündigt, in der es von Altbekanntem nur so strotzt.
Vor dieser Expedition in unbekannte Weiten bewies das Sibelius Orchester sein Niveau durch die überzeugende Aufführung zweier bekannter Werke von Wolfgang Amadeus Mozart: einer mit Verve musizierten und von Dodds sicher zusammengehaltenen Haffner-Sinfonie D-Dur KV 385 und der froh schwingenden Motette „Exsultate, iubilate“ KV 165. Die Sopranistin Anna Smith sang sehr beweglich, mit einer bei aller Koloraturkunst ansprechenden Natürlichkeit, die eine Neigung zum Liedgesang vermuten lässt. Wunderbar!