Über die inconsistency des Berliner Kulturlebens in Pandemiezeiten kriegt sich der ältere britische Streichquartettkenner hinter mir im Pierre-Boulez-Saal kaum mehr ein. Ganz Unrecht hat er nicht, es ist zwar schön, ohne Maske im vollbesetzten Saal zu sitzen. Aber während uns tragisch verblendete oder auch bloß banal renitente Impfmuffel gerade ins nächste Desaster seuchen, wäre es schöner mit 2G-Regel statt des geltenden „3G“. Und auch eine genauere Kontrolle der Impfzertifikate wäre eine feine Sache – man kann und sollte die QR-Codes mal scannen, nicht bloß anschauen, lieber Boulezsaal (und liebes Konzerthaus am Vortag)!
Nevertheless, die Eröffnung eines kompletten „Schostakowitsch-Zyklus“ durchs großartige Hagen-Quartett ist ein Ereignis, für das man Gefahr in Kauf nimmt.
Wobei das Wort „Zyklus“ ja so eine Sache ist. Am Ende mag der мастер zyklisch gedacht haben, aber wohl kaum, als er Mitte der 1930er Jahre irgendwie ins Genre Streichquartett hineinstolperte. Dass er irgendwann fünfzehn davon komponiert und Maßstäbe gesetzt haben würde, ahnte Schostakowitsch wahrscheinlich nicht, als er sein erstes „ohne besondere Gedanken und Gefühle zu schreiben“ begann und dachte, „dass nichts dabei herauskommen würde“. Dennoch hat man kaum das Gefühl, das 1. Streichquartett C-Dur opus 49 hier lediglich der Vollständigkeit halber zu hören. Denn das klingt wie ein schwebender Edelstein, ein Zweck an sich, das Hagen Quartett ist auch in leicht spröden Passagen sinnlich und voller Witz und gibt sich im Schluss-Allegro scheulosem Schrubben hin. (Wie konnte Schostakowitsch das zuerst als Kopfsatz planen?)
Den ganzen Abend über zeichnet sich das Hagen Quartett nicht nur durch ideales Zusammenspiel aus, auch nach vierzig Jahren ohne jeden Anflug von Routine. Stattdessen Risikofreude bis Todesmut, vor allem beim Primarius. Zugleich ist da eine durchaus vorteilhafte nicht gerade gutgelaunte gewisse Ungeduld gerade des Cellisten, die das Hineinstürzen ins 2. Quartett A-Dur (1944) rechterdings packend macht, zumal in Konsistenz mit der sehr nachdrücklichen Tongebung dieser ganzen eröffnenden Ouverture. Ungemein ausdrucksstark dann das folgende Rezitativ und Romanze-Adagio, dabei von einer Einfachheit, dass man stellenweise an späten Beethoven zu denken wagt. Und dann geht’s doch in undurchsichtige, eher glasige als gläserne Gefilde, so dass man sich am Ende ganz mit Zwielicht glasiert fühlt als Hörer. Von nie nachlassender Immensspannung der folgende Walzer, von herber Dröhnung die insistierenden Variationen des Finales.
Mit dem 3. Quartett F-Dur von 1946 tapst dann auch der lediglich sporadische Streichquartettfreund vorsichtig auf bekannteres Terrain. Dieses Werk geiert mit seinen vielfältigen Klangreizen geradezu nach Orchestrierung, zugleich spürt man aber, dass diese Versuchung das Stück zerstören würde. Jedenfalls möchte ich Rudolf Barshais Kammersinfonie-Fassung des dritten Quartetts niemals hören, mit Verlaub. Wie sich hingegen die vier Musiker (drei Hagens und ein Schmidt) am Ende in die totale Stille tasten – den konsequenten Endpunkt nach der gruseligen Heiterkeit des fünften Satzes, die wie ein noch tieferer Abgrund wirkt als die Pathétique-Schmerzen des vorhergehenden Adagio: ungeheuerlich.
Und was für ein Weg vom ersten zum dritten Quartett.
Der „Zyklus“ geht in Konzerten im November, Februar und zweimal im Juni weiter. Droht dabei der Schostakowitsch-Koller? Überdruss befürchte ich am ehesten im Spätwerk. Gedanken ans Drumherum, Drandavor und Draußdanach kommen einem allerdings hier schon, nur hauchweise zwar. Schostakowitsch-Quartette gibt es zwar nicht stäääändig (in Sachen „Zyklus“ erinnere ich mich ans Mandelring-Quartett), aber doch öfter. Und wenn Michael Kube im Programmheft über die Streichquartette von Tanejew, Glasunow und Glière oder gar Gretschaninow (wer?) und Mjaskowski (кто?) schreibt, befällt mich hohe Hörlust auf genau das: woher oder eben nicht woher oder wogegen Schostakowitsch sein enormes, kanonisiertes Streichquartettwerk schuf.
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Erinnere mich, wie das Hagen Quartett meine absoluten Helden waren und in einer Konzertpause mit der örtlichen Klassikkritikerin diskutiert habe, die das Hagen Quartett zu scharf u spitz fand und etwa das Cherubini Quartett bevorzugte. Habe Haydn op 20 (gelbe DG-Box) geliebt mit denen. Schon toll, dass es da solche Kontinuitäten gibt.